Die Blütenfrau
Arbeitsfläche eliminiert hatte.
Fast konnte sie ihr Spiegelbild auf der blanken Schreibtischunterlage ausmachen: Ihre kurzen roten Haare, das breite Grinsen (wenn sie denn einen Grund zum Grinsen gehabt hätte), die mädchenhafte Nase.
Im Nachhinein konnte sie nicht mehr nachvollziehen, was sie zu dieser, für sie völlig untypischen Aktion veranlasst hatte. Und heute Morgen kam ihr der Verdacht, dass es vielleicht so etwas wie eine Vorahnung gewesen war. Vielleicht hatte ihr ein Orakel zugeflüstert, dass sie Platz brauchen würde. Platz für zwei Briefe. Zwei Briefe, die so wichtig zu sein schienen, dass es nicht gepasst hätte, sie auf den Kuddelmuddel zu legen, welcher bis gestern noch auf ihrem Schreibtisch angehäuft gewesen war.
Der erste steckte in einem länglichen Umschlag in neutralem Weiß, mit Adressfenster, auf dem man ihren Namen lesen konnte: Kriminalhauptkommissarin Wencke Tydmers – persönlich –, 1. Fachkommissariat Polizeibehörde,Fischteichweg 1 – 5, 26603 Aurich. Die Absenderzeile war im Umschlag zu weit nach oben gerutscht, man konnte nichts entziffern, doch die Stempel auf dem Kuvert verrieten, dass der Brief in Hannover seine Reise angetreten hatte. Amtliche Briefe aus der Landeshauptstadt waren immer wichtig.
Aber Wenckes Aufmerksamkeit richtete sich auf den zweiten Brief. Ein Kuvert aus schwerem Papier in Hellblau, mit angerauten Kanten. Handschriftliche Schnörkel bildeten ihren Namen. Sie fand keine Briefmarke, dafür eine silberne Prägung: «Einladung».
Nebenan erschallte Gelächter. Greven machte einen Witz, und Hannah Weigert, die neue Kollegin, die für den pensionierten Strohtmann gekommen war, kreischte übertrieben. Wencke hatte eben beim Hereinkommen gesehen, dass auf jedem Schreibtisch der Abteilung so ein hellblauer Umschlag lag. Sie drehte ihn langsam um. Der Absender war ebenfalls in silberner Schrift:
Kerstin Spangemann & Axel Sanders.
Er hätte es mir persönlich sagen müssen, dachte Wencke. Ein Satz unter vier Augen hätte gereicht. Doch im gleichen Moment fiel ihr auf, dass es schon seit Wochen keine Gelegenheit mehr gegeben hatte, bei der sie mit Axel Sanders allein und ungestört gewesen wäre. Um genau zu sein, seit er vor sechs Monaten die Koffer gepackt hatte und aus ihrer gemeinsamen Zweck-WG gezogen war. Oder hing es damit zusammen, dass sie nun, da ihr Sohn Emil zufrieden und glücklich in den Kindergarten ging, wieder Vollzeit in ihr altes Büro zurückgekehrt und Axels Zeit als ihr Vertreter abgelaufen war? Jetzt wurde Wencke klar, dass er ihr gezielt aus dem Weg gegangen sein musste. Dieser Feigling. Tat so, als wären sie nur Kollegen und mehr nicht. Er hätte es ihr wirklich persönlich sagen können. Nach alledem …
Nebenan war es wieder still. Oder waren sie alle zumFeiern in die Cafeteria verschwunden, ohne ihr ein Wort zu sagen?
Zaghaft klopfte jemand an der Tür. Das kann nur Axel sein, dachte Wencke, niemand hier klopft sonst zaghaft, und er tut es nur, weil er einen triftigen Grund dazu hat. Schnell schob sie den hellblauen Brief unter den anderen. «Herein.»
Es war Hannah Weigert. Alle nannten die neue Kollegin Pal – die Abkürzung für Palindrom –, weil man ihren Namen vorwärts und rückwärts lesen konnte. Meint Britzke, der immer alles wusste, hatte dieses Wortspiel bemerkt, die anderen hatten den Begriff auf drei pfiffige Buchstaben reduziert. Sehr kreativ für eine Polizeibehörde, fand Wencke. Außerdem passte der Spitzname viel besser zu der Frau mit dem seltsam asymmetrisch geschnittenen Weißhaar, der bunt geflochtenen Strähne und dem Nasenpiercing. «Wencke, die haben das vermisste Mädchen», sagte Pal leiser, als es sonst ihre Art war.
Wencke erinnerte sich: Gestern, nach einer langen Schicht, kurz vor Feierabend hatte sie noch einen Anruf aus der Nachbarstadt Norden hereinbekommen. Es war zwanzig vor acht gewesen. Ein Vater hatte – stotternd und stammelnd vor Aufregung – seine pubertierende Tochter als vermisst melden wollen. Wencke hatte ihm vorgeschlagen, noch ein bisschen zu warten, vielleicht bis neun oder so, schließlich sei das Wetter so schön, und im Juni bliebe es noch lange hell draußen. Gegebenenfalls solle er sich dann nochmal bei den Kollegen in Norden melden. In jedem Fall sei diese Sache aber noch keine Angelegenheit für die Kripo. Zwei Stunden zu spät kommen – das passiere bei Teenagern schon mal.
Vor einem halben Jahr hätte Wencke wahrscheinlich noch anders
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