Die Blütenfrau
nie dazu gekommen. Es hatte einfach keine Gelegenheiten für Fotos gegeben.
Esther spürte, wie sich ihr Hals verengte. Schlucken war kaum noch möglich, und auch das Luftholen fiel ihr schwer. Sie schaute sich nur halbherzig auf der Straße um, denn sie wusste, die Schmierfinken hatten sich schnellstens aus dem Staub gemacht, da würde sie niemanden mehr erwischen. Von den Nachbarn ließ sich ohnehin keiner mehr blicken, wenn sie aus der Tür trat. Früher einmal hatten sie eine gute Straßengemeinschaft gehabt. Die Rosenthallohne lag malerisch mitten in der Stadt: verwunschene Vorgärten, entzückende Jugendstilvillen, kleine Backsteinhäuschen und eine schmale Straße, die für den Durchgangsverkehr gesperrt war. Doch manchmal kam es Esther vor, als sei inzwischen eine Evakuierungsmaßnahme eingeleitet worden, von der sie als Einzige nichts mitbekommen hatte. Vielleicht, weil sie und ihr Mann der Grund für die Räumung gewesen waren.
Da prangten nun diese Buchstaben an ihrer Hauswand. Gernot würde sie zum Glück nicht zu Gesicht kriegen, er war heute Morgen mit dem Motorrad losgefahren. Das tat er neuerdings manchmal an seinen freien Tagen. Esther hatte Verständnis dafür, obwohl sie wusste, dass das ziellose Herumfahren eine Sache war, die auch ein Risiko darstellte.«Cruisen» nannte der Familientherapeut das, und man solle es auf jeden Fall vermeiden. Zumindest in der Anfangszeit. Aus dem Spazierenfahren konnte schnell etwas anderes werden – so etwas wie eine Suche zum Beispiel. Eine Suche nach jungen Mädchen.
Laut Rückfallvermeidungsplan hätte Esther es verhindern müssen, das war ihr klar. Andererseits wollte sie, dass es Gernot gut ging, dass er seine Freiheit genießen konnte. Es lag ihr nicht, den Freiheitsdrang ihres Mannes durch Verbote einzuschränken. Dazu liebte sie ihn viel zu sehr. Und waren sie nicht auch langsam über die Anfangszeit hinweg? Irgendwann mussten sie doch damit beginnen dürfen, ein eigenes Leben jenseits der Beratungsstellen zu führen. Schließlich war bislang alles gut gelaufen.
Doch gleich würde Griet heimkommen und die Schmiererei lesen. Machten sich die Leute denn überhaupt keine Gedanken, wie es ihrer Tochter bei der ganzen Sache ging? Einmal war Griet eher aus dem Gymnasium nach Hause gekommen, weil ein Mitschüler ganz ungeniert gefragt hatte, wie denn die letzte Nacht mit ihrem Stiefvater gelaufen sei.
Die Menschen sind widerlich geworden, dachte Esther. Oder waren sie es schon immer? Jedenfalls hatte Esther es paradoxerweise erst bemerkt, als sie einen vorbestraften Mann heiratete.
Gerade als sie wieder ins Haus gehen wollte, hörte sie das Scheppern von Griets altem Hollandrad, welches von der unregelmäßig geteerten Straße durchgeschüttelt wurde. Sie blickte sich um und erwischte ihre Tochter dabei, wie sie sich verschämt mit ihrem schwarzen Fledermausärmel ein paar Tränen aus dem Gesicht wischte. Hatte sie etwa schon von der neuen Schmach gehört? Oder war die Schmiererei bereits heute früh da gewesen? Nein, Oltmanns hätte sie nicht übersehen können, die Vandalen mussten ihr Werk inder Stunde vollbracht haben, als sie ihn mit den Blutegeln behandelte. Am helllichten Tag also war es ihnen gelungen, an ihrem Haus herumzuschmieren, ohne dass es jemandem aufgefallen war – oder zumindest, ohne dass jemand versucht hätte, den Anschlag zu verhindern.
Also konnte Griet von alldem hier eigentlich noch keine Ahnung haben. Trotzdem sah sie verheult aus. Ihre schwarze Wimperntusche und das dicke Kajal, das nicht nur ihre Augen, sondern auch ihr Aussehen als Grufti deutlich unterstrich, waren verwischt, durch den totenblassen Gesichtspuder zogen sich rinnsalartige Spuren.
«Grufti» war der richtige Ausdruck für Griets Erscheinung, Todessehnsucht war derzeit der Lebenssinn ihrer Tochter. Natürlich machte Esther sich Sorgen, sie hatte Bücher über Heranwachsende gelesen und sich im Internet über diese «Gothic»-Bewegung informiert. Eine Phase, beruhigten die meisten Experten, man solle nur darauf achten, dass die Teenager keine Suizidabsichten äußerten, sie aber sonst gewähren lassen. Jugendliche bräuchten manchmal die extreme Form, um sich und ihre Gefühle auszudrücken. Toleranz und Gesprächsbereitschaft seien hier die gefragten Eigenschaften, mit denen die Eltern dem Nachwuchs am meisten helfen könnten. Also versuchte Esther stets die finsteren Musikklänge aus Griets Zimmer zu überhören und akzeptierte stillschweigend, wenn dort die
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