Die Blütenfrau
und ein paar niedliche Dinge für die Lieben daheim kaufen könnte. Doch so weit waren sie alle noch nicht. Es fehlte noch etwas. Vielleicht war es genau dieser heutige Tag, der noch fehlte. Wenn geschafft war, was er sich vorgenommenhatte, dann wäre das ein Neubeginn. Dann würde er gleich morgen früh Geschenke für Esther und Griet kaufen. Oder besser noch: Er würde anrufen und sie bitten, ihm hinterherzureisen. Sie würden dann gemeinsam durch die Inselstraßen schlendern, vielleicht ein Fischbrötchen essen oder ein Eis. Hier auf Spiekeroog würde es sicher einfach sein, Arm in Arm mit Esther spazieren zu gehen. Hier lief man herum und hatte schnell das Gefühl, dazuzugehören, einer von vielen und doch Teil des Miteinanders zu sein. So ein Gefühl hatte Gernot seit seiner Haftentlassung nicht mehr gehabt.
In einer kleinen Buchhandlung kaufte er sich einen Inselkrimi. Die Verkäuferin mit der Lesebrille wünschte spannende Unterhaltung. Er sagte schüchtern, er wolle sich lieber
ent-
spannen. Da lachte die Frau und versicherte, hier auf Spiekeroog ginge beides zugleich.
Sie hatte ja keine Ahnung, dass Gernot das Buch brauchte, um sich daran festzuhalten.
Er setzte sich in das Hotel-Café Inselnest. Das war das Einzige gewesen, was er gestern Abend noch unternommen hatte: nachschauen, wo das Hotel Inselnest lag.
Seinen Platz suchte Gernot nicht draußen, denn auf die Inselsonne reagierte er empfindlich. Schon jetzt spannte die Haut auf seinem Gesicht. Während also alle anderen Gäste auf der Terrasse hockten, war er im Innenraum der einzige Gast. Er merkte, wie aufgeregt er war, und suchte seine kleine Dose mit den Notfall-Bonbons. Schaden konnte es nicht. Doch seine Hände zitterten, und er kippte aus Versehen den Inhalt direkt in seine Jackentasche. Schnell steckte er sich ein Dragee in den Mund, die restlichen hellbraunen Drops landeten wieder in der Dose. Er war mit seinen Nerven am Ende.
Bedient wurde er von einem blassen Mädchen, das sonsthinter dem Tresen werkelte. Der junge Kellner hatte draußen genug zu tun, doch trotz der vielen Arbeit wirkte er sehr galant, tat fast ein bisschen zu viel des Guten, immerhin gab es hier keine französische Küche, sondern Hausmannskost à la Nordseeküste. Matjes auf Schwarzbrot, bitte sehr … Gestatten Sie, Seelachsfilet mit Bratkartoffeln … Ist mir eine Ehre – das passte nicht wirklich hierher. Aber der Mann war freundlich, auffällig gepflegt, die hellblonden Haare sehr kurz geschnitten und die Haut so braun, als gönnte er sich ab und zu ein Bad unter der künstlichen Sonne. Er hastete an Gernot vorbei, immer das nächste Tablett im Auge und die neue Bestellung im Hinterkopf. An seinem Handgelenk entdeckte Gernot die kleinen Narben. Die, die man auf den ersten Blick sehen konnte, waren hell und glatt. Manchmal rutschte der weiße Hemdsärmel nach oben, und dann sah man auch frische Schnitte, klein und dünn wie ein Haar. Jeder, dem der Makel auffiel, würde sich die Frage stellen, warum dieser junge, nette Kerl wohl dazu fähig war, an sich selbst herumzuschneiden.
Gernot kannte die Antwort.
Das Telefon im Gastraum klingelte. Das Mädchen hinter dem Tresen rief nach dem Kellner. «Hanno? Ist für dich!»
Der Mann schaute kurz zur Tür herein. «Keine Zeit, du siehst doch, dass die alle was von mir wollen.»
«Es ist ein gewisser Axel Sanders oder so. Von der Polizei Aurich», wisperte das Mädchen und zog eine Grimasse, als sie bemerkte, dass Gernot die Szene interessiert beobachtete.
Der Kellner ging zum Telefon. Ganz souverän. Er wirkte nicht, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Dann wäre er anders gelaufen.
Und doch war Gernot sich sicher, dass dieser Kerl allen Grund dazu hatte.
Leider verschwand er mit dem Telefon nach hinten in die Küche, und Gernot konnte kein Wort des Gesprächs verstehen. Doch es dauerte nicht lange, höchstens eine Minute, dann war er wieder im Einsatz und balancierte auf dem Tablett drei große Tassen Kaffee.
Ganz dicht lief er an ihm vorbei, grüßte kurz, blieb dann abrupt stehen und machte einen Schritt zurück. «Was zum Teufel machen Sie denn hier?»
16.
Clematis
(Weiße Waldrebe – Greisenbart)
Botanischer Name: CLEMATIS VITALBA
Die Blüte gegen Gleichgültigkeit und Flucht vor der Realität
Neulich hatte Wencke gelesen, dass «Kleinod» zu den vom Aussterben bedrohten Wörtern gehörte und – wenn überhaupt – weniger im ursprünglichen Sinne für ein Schmuckstück als vielmehr als
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