Die Blütenfrau
Jungfrau …» Esther Vanmeer benutzte für ihre Rechtfertigung beide Arme, sogar ihr Fuß wippte unterstützend mit. Wahrscheinlich war ihr klar, wie faul die Ausreden in den Ohren anderer klingen mussten. «Und man hat Gernot nicht nachweisen können, dass er ihnen Gewalt angetan hat.»
«Wer mit minderjährigen, vorpubertären Kindern – noch dazu Schutzbefohlenen! – sexuellen Verkehr hat, ist gewalttätig!» Axel wurde wütend. Es geschah selten, dass er so aus sich herausging. «Ihr Mann hat den Mädchen damals gedroht, sie allein im Wald zurückzulassen, sollten sie je auch nur ein Sterbenswörtchen von der Sache verraten. Wer so etwas tut, ist brutal. Das ist die Wahrheit. Da gibt es nichts zu verdrehen!»
Esther Vanmeer zuckte zusammen, als meinten Axels Vorwürfesie persönlich. «Aber er hat sich geändert, er wurde therapiert. Er hat sich mit seinen Taten auseinandergesetzt. Empathietraining nennt man das. Sein Therapeut hat ihm Wege gezeigt, wie er sich besser in die Lage der Opfer hineinversetzen kann. Darum würde er so etwas nie wieder tun. Zudem nimmt Gernot regelmäßig Medikamente.»
Axel schnaubte. «Echte? Oder die alternativen Wässerchen aus Ihrem Bestand? Ein bisschen Homöopathie schadet schließlich nie. Vielleicht mischen Sie ihm ja ein Kräutersüppchen, damit er die Finger von kleinen Mädchen lässt?»
«Axel!», zischte Wencke mahnend, doch natürlich bekam Frau Vanmeer es trotzdem mit.
«Ja, ich behandle ihn zusätzlich mit Bachblüten. Cherry-Plum, also Kirschpflaume, wenn Sie es genau wissen wollen. Es hilft meinem Mann, die Angst vor der Unbeherrschbarkeit seiner Triebe zu bewältigen. Dazu gebe ich ihm immer noch ein paar Dragees für den Notfall mit, Rescue-Blüten.»
«Hokuspokusfidibus», feixte Axel.
Wencke musste ihn stoppen, bevor Esther Vanmeer komplett dichtmachte. «Axel, kannst du bitte mal meine Jacke aus dem Auto holen? Mir ist kalt.»
«Dir ist kalt? Die Sonne scheint, das Thermometer zeigt dreiundzwanzig Grad, der Wind ist eingeschlafen …» Es dauerte einen Moment, bis Axel schaltete, dann nickte er kurz. «Ich wollte sowieso nochmal auf Spiekeroog anrufen. Inzwischen müsste das Café geöffnet sein.» Er trottete Richtung Straße.
Wencke schaute hinterher und seufzte. «Entschuldigen Sie sein Verhalten, Frau Vanmeer, er ist manchmal etwas unsensibel.»
«Er ist ein Rockwater-Typ.»
«Wie bitte?» Wencke hatte sich für Axel schon zahlreiche Bezeichnungen ausgedacht: Besserwisser, Spießer, Seitenscheitelträger– aber der Begriff Rockwater-Typ war ihr vollkommen fremd.
«Ich beschäftige mich doch mit Bachblüten. Und es passiert mir oft, dass ich einen Menschen das erste Mal sehe, und schon fällt mir die passende Blüte ein.»
«Und was bedeutet das im Fall meines Kollegen?»
«Ich glaube, er ist ein Mensch, der sehr streng mit sich ist, der hohe Ansprüche stellt und diese auch gegen die eigenen Gefühle zu erfüllen versucht. Er ist ein bisschen erhaben, ein bisschen hochmütig, meistens ziemlich humorlos. Im Grunde genommen würde er gern anders sein, kann es aber nicht, denn dann müsste er das Korsett der Konventionen sprengen.»
Interessant, wie treffsicher diese Frau gerade einen Mann beschreibt, aus dem ich schon seit Jahren versuche schlau zu werden, dachte Wencke.
«Sie beide ergeben übrigens eine gefährliche Mischung.» Na, das war ja noch interessanter. «Inwiefern? Was bin ich denn für ein … für eine Blüte?»
«Lerche, denke ich. Larch-Typen haben einen unbewussten Minderwertigkeitskomplex, der sich schon in frühester Kindheit manifestiert hat, oft weil die Eltern dem kleinen Kind nichts zutrauen. Larch-Typen denken von sich, dass sie weniger drauf haben als andere.»
Mensch nochmal, dachte Wencke, woher weiß die das?
«Dabei ist der Larch-Typ den anderen oft sogar meilenweit voraus.» Esther Vanmeer lächelte und trank einen Schluck Wasser.
Wahrscheinlich ist das so ein Kristallwasser, dachte Wencke, links herum gerührt bei Vollmond und dabei nicht an ein Nilpferd denken … Irgend so ein Ritual wird dieses Wasser hinter sich haben. Trotzdem war sie durstig. Die Morgenhitze und diese etwas unheimliche Charakteranalyse warenschuld daran. «Und was meinen Sie mit der gefährlichen Mischung, die mein Kollege und ich abgeben?» Klang das beiläufig genug?, fragte sie sich und griff nach ihrem Glas.
«Ein Rockwater-Typ meint, die Welt erklären zu können, ist aber in Wirklichkeit so eingeschränkt, dass er
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