Die Blütenfrau
Patientenkartei wird immer übersichtlicher, da gibt es nicht mehr genug zu saugen für die Egel.»
«Warum haben Sie zwei Becken?»
«Aus hygienischen Gründen dürfen die Tiere nur einmal zum Einsatz kommen. Danach sortiere ich sie aus.»
«Und dann?»
«Schenke ich ihnen die Freiheit, wenn Sie so wollen.»
«Sie setzen sie aus? Vielleicht auch im Schwanenteich?»
Esther Vanmeer lachte kurz. «Natürlich nicht. Meistens fahre ich raus aufs Land, in der Westermarsch gibt es einige Gräben … Ich habe auch einen Patienten aus der Gegend. Er nimmt die Tiere manchmal mit und bringt sie zu einem Graben oder Teich.»
«Wozu setzen Sie die Tiere denn überhaupt ein?», fragte Wencke und versuchte mit aller Macht, ihre Abscheu nicht offensichtlich werden zu lassen.
«Bluthochdruck, Gicht, Tinnitus, Thrombose …»
Zum Glück litt Wencke an keiner dieser Krankheiten. «Und hier kann im Grunde genommen jeder ran und sich ein paar Tiere herausholen?»
«Ich habe mir bislang noch keine Sorgen gemacht, dass jemand meine Blutegel stehlen könnte. Die meisten Menschen ekeln sich davor, so wie Sie es – wenn ich mir Ihren Gesichtsausdruck anschaue – auch tun.»
«Und Ihr Mann?», fragte Axel.
«Ich wusste, Sie würden früher oder später doch wieder auf Gernot zu sprechen kommen. Von wegen, Sie interessieren sich für Blutegel …»
Wencke klärte auf: «Wir haben sechs Blutegel im Körper des Mädchens gefunden. Es handelt sich um
Hirudo medicinalis
. So wie bei Ihnen.»
«Ich kann mich nicht erinnern, dass ich meinen Tieren ein Halsband umgelegt hätte …»
«Ja, das stimmt schon, natürlich können die Würmer auch woandersher stammen. Aber nicht jeder kommt aufden Gedanken, mit Blutegeln zu hantieren, es sei denn, man hat diese Tiere quasi vor der Haustür.» Wencke entschied sich, diese Frau ein wenig ins Gebet zu nehmen. Warum sollten sie die Zeit mit Nettigkeiten vertrödeln? Esther Vanmeer wusste, dass Gernot Huckler unter Verdacht stand, und sie begegnete ihnen ganz offensichtlich mit einer Mischung aus Misstrauen und Ablehnung, schien aber dennoch nicht gänzlich unkooperativ zu sein. Sie wollte ihren Mann verständlicherweise schützen. Im Moment konnte Wencke noch nicht erkennen, ob dieses Verhalten daraus resultierte, dass sie ihn tatsächlich für unschuldig hielt – oder nur halten wollte. «Wir haben alle einschlägig Vorbestraften in der Region überprüft, Frau Vanmeer, und bei Ihrem Mann treffen einige ziemlich eindeutige Faktoren zu.»
Axel mischte sich ein: «Noch dazu hat Ihr Mann Ihnen nicht die Wahrheit gesagt, was sein Alibi angeht. Und dann fährt er auf und davon, ist angeblich nicht zu erreichen …»
«Er hat es nicht so mit Handys. Sein Apparat liegt drinnen auf dem Küchentisch.» Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
«Vielleicht will er ja gar nicht erreichbar sein», drängte Wencke.
«Er hätte keinen Grund, sich zu verstecken.» Richtig überzeugt klang der letzte Satz bei weitem nicht mehr.
Wencke ging einen Schritt auf Esther Vanmeer zu, diese zog die Arme enger um den Leib. «Der Mord steht heute in jeder Zeitung. Alle Medien berichten davon. Ausnahmslos. Wenn Ihr Mann nicht zwischenzeitlich ans Ende der Welt gereist ist, wird er also vom Mord erfahren haben. Und dann muss ihm klar sein, dass sein Verhalten nach Flucht aussieht.»
Esther Vanmeer seufzte. «Sie haben ja recht. Und auch wieder nicht: Mein Mann ist kein Mörder!»
«Können Sie mir erklären, warum Sie da so sicher sind?»
«Also gut.» Esther Vanmeer führte sie in den hübschen Garten, wo ein paar verrostete Gartenmöbel auf der Blumenwiese standen. Sie verschwand im Haus und kam kurz darauf mit einem Krug Wasser und drei Gläsern wieder heraus. Bedächtig setzte sie sich zwischen Wencke und Axel.
«Gernot hat damals in Hameln diese Sachen gemacht. Sie haben sich da ja sicher schon erkundigt. Aber er kannte die Mädchen aus seiner Jugendgruppe, sie hatten Vertrauen zu ihm, ja, sie mochten ihn. Und sie haben ihn freiwillig auf diese Zelttour begleitet, wahrscheinlich haben sie sogar von sich aus den Körperkontakt gesucht …»
Axel gab sich keine Mühe, seine Abscheu zu verbergen. «Frau Vanmeer, es stimmt, wir kennen die Akte Ihres Mannes. Und daher wissen wir auch, es war nicht sein erster Übergriff dieser Art. Diese Mädchen waren zudem gerade mal elf Jahre alt!»
«Aber … sie kamen aus schwierigen Familien. Die eine von ihnen war ja noch nicht einmal mehr
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