Die Blume der Diener
Tafelmeister ihr einen Umschlag auf die wunden Stellen legte. Schließlich fragte William sanft: »Wollt Ihr jetzt Euren Sohn sehen, Mistress?« Mistress Rudyard hielt den Atem an, nickte und stemmte sich auf die Beine. Sie war fest entschlossen, den Tatsachen tapfer ins Auge zu blicken.
Der Schlafsaal der Männer war ein langer Raum, in dem die Pritschen wie Strohgarben in Reih und Glied standen; zwischen ihnen bewegten sich die schwarz gekleideten Benediktiner hin und her. Sie beugten sich hier und da vor, um eine Stirn abzutupfen oder einem Leidenden etwas zu trinken zu geben. Mistress Rudyard stöhnte auf, als sie die Mönche und die geröteten, verzerrten Gesichter der Kranken sah. Doch William drängte sie mit sanfter Gewalt aus der Mitte der Halle fort und hin zu einer Pritsche, die etwas abseits von den anderen in der Nähe der Tür aufgeschlagen worden war. Hier lag Ned; er hatte einen Arm über das zerzauste Haar gelegt. Seine Brust hob und senkte sich unter den tiefen, ruhigen Atemzügen eines gesunden Schlafes. Die Wangen waren nicht ungewöhnlich rot und als er die Augen aufschlug, war ihr Blick klar und gesund.
Mistress Rudyard sank neben ihrem Sohn auf die Knie und weinte erneut. »Die Mutter Gottes möge Euch segnen, Master Flower«, heulte sie, ergriff dabei Williams Hand und küsste sie, bevor er es verhindern konnte.
»Tausend, tausend Gnaden sollen auf Euren hellen Kopf herabregnen!« Sie hob die Augen zu Williams scharlachrot gewordenem Gesicht und lächelte schwach angesichts seiner Verlegenheit. »Seht doch nur, wie der Knabe errötet«, sagte sie zärtlich. »Ihr seid wahrlich eine Rose, Master William Flower, die hübscheste Blume der Dienerschaft, und ich preise den Tag, an dem Ihr zu uns kamet.«
Kapitel Sechs
Es war ein früher Maimorgen im Jahr von Königin Constances Tod. Die Straße zwischen Nagshead und dem Wald von Hartwick war dunkel und duftete nach Frühling. Dünner Nebel suchte das junge Getreide heim, Kuckucke tobten in den Hecken und kecke Lerchen forderten mit lauter Stimme den Aufgang der Sonne. Margery, Jane und Kitty tänzelten die Straße entlang, plauderten miteinander und schwangen ihre Körbe. Wie es Bittstellerinnen der Liebe zukam, waren sie ganz in Weiß gekleidet und hatten sich das lange, offene Haar mit Veilchen und Schlüsselblumen geschmückt.
Elinor ging allein hinter den Melkmägden ihrer Mutter her. Sie war groß und schlank wie eine Birke und ihr Gesicht war ernst. Man konnte nicht behaupten, dass sie an jenem Morgen eifrig darauf bedacht war, in den Wald zu kommen, aber man konnte auch nicht sagen, dass sie zögerte. Sie ging, wie ein Priester zur Kirche geht – ohne Eile und voller Verantwortungsbewusstsein. Als die kleine Gruppe unter das dunkle Blätterdach von Hartwick gelangte, fielen Margery, Jane und Kitty zurück und Elinor schritt nun vor ihnen her.
Zuerst führte sie ihre Gefährtinnen den breiten Waldarbeiterpfad entlang, der geradewegs durch das Gestrüpp führte. Aber bald wurde der ausgetretene Pfad immer schmaler und verzweigte und verästelte sich mehrfach im Unterholz. Elinor wählte einen dieser kaum mehr erkennbaren Wege und folgte ihm durch Brombeerranken und blühende Dornbüsche zu einer kleinen, offenen Lichtung, funkelnd von Maiglöckchen und Nebel.
Die vier Mädchen bewegten sich ehrfürchtig durch den wogenden Bodennebel. Sie schnitten am Rande der Lichtung Eschenzweige ab und pflückten frische, junge Birkenblätter. Elinor flocht die Zweige zu einem flachen Nest, das Margery mit sich überlappenden Blattreihen auslegte. Vorsichtig füllten Kitty und Jane Tau in schalenartige Blätter und schütteten ihn in das Becken, bis es voll war. Als alles fertig war, ging bereits die Sonne auf. Die Mädchen knieten in einem Kreis um den quecksilbernen Spiegel nieder und jede erwartete mit klopfendem Herzen den Blick hinein.
Margery war die Erste der vier. Bleich lehnte sie sich nach vorn über das Becken, tauchte die Finger in den Tau und benetzte sich Lippen und Augenlider mit drei perlenden Tropfen. Mit leiser Stimme sprach sie:
»Hirsch zu Hirschkuh,
Schwan zu seiner Schwänin,
Hahn zu Herrn sich wendet.
Mag der Tau im Nu
Mein wahre Lieb mir finden
Dessen Liebe niemals endet.«
Sehr ernst blickte Margery in das Becken und genauso ernst versuchten ihre Gefährtinnen an Margerys Gesichtsausdruck zu erkennen, was sie in dem Wasser sah. Eine atemlose Pause entstand; dann weiteten sich ihre Augen und ein neumondartiges
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