Die Blume von Surinam
nach all dem, was uns passiert ist …«
»Es hätte ja nicht so weit kommen müssen …« Da war er wieder, der leise Vorwurf, den ihre Mutter in den letzten Monaten immer wieder geäußert hatte. Ihre Mutter hatte es nie laut ausgesprochen, aber Inika wusste, dass sie Inika für den Tod ihres Vaters verantwortlich machte. Sie wusste aber auch, dass ihre Mutter gegen die Hochzeit gewesen war. Inika plagte ein schlechtes Gewissen. Sie wollte für ihre Mutter nur das Beste. Nur sah sie momentan kaum einen Ausweg aus ihrer Lage. Sie waren Kontraktarbeiter. Billige Arbeitskräfte.
»Ich muss Arbeit finden und am besten beizeiten wieder heiraten, nur so werden uns die anderen wieder akzeptieren«, hatte ihre Mutter gesagt.
»Du willst doch nicht wirklich irgendwann zurück zu unseren Leuten? Sie haben uns nach dem Leben getrachtet.«
Sarina hatte geseufzt und Inika übers Haar gestrichen. »Inika, wir sind Inder. Dies ist nicht unser Land, dies ist nicht unsere Kultur. Wir gehören zu ihnen, ob wir wollen oder nicht, und wir haben auch nur in ihren Kreisen eine Chance.«
Zurück zu den Indern, gar zurück in das kleine Dorf auf der Plantage. Nein, das wollte Inika auf keinen Fall. Niemals.
Aber in der Stadt war es noch schlechter um die Kontraktarbeiter bestellt als im Hinterland. Bogo hatte Arbeit auf den Muschelbänken gefunden, auf denen unweit der Stadt unentwegt der Muschelkalk für den Straßenbelag in Paramaribo gewonnen wurde. Inika hatte ihn einmal dorthin begleitet. Aber die entweder tropfnassen oder über und über mit Muschelkalk verstaubten Arbeiter hatten Inika abgeschreckt. Es waren zerlumpte und abgerissene Gestalten, die anderswo kaum eine Chance hatten, Arbeit zu finden. Geschweige denn eine bessere. Auch sonst herrschte in der Stadt ein strikter Klassenkampf. Zuoberst in der Hierarchie standen die Mulatten und die Schwarzen, darunter die Chinesen, dann die Indianermischlinge und ganz unten kamen die Inder. Wenn man ein hübsches Mädchen war, und nur dann, konnte man vielleicht in einer der dunklen Herbergen in der Nähe des Hafens ein paar Gulden verdienen. Aber selbst dort wurden die indischen Mädchen von den Mulattenmädchen beschimpft und fortgejagt. Erst vor wenigen Wochen hatte Misi Erika wieder ein Mädchen aufgenommen und bei den Missionaren untergebracht, da es für das Kinderhaus bereits zu alt gewesen und zudem schwanger war.
Inika seufzte und legte das Messer beiseite. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Sie musste eine Möglichkeit finden, Geld zu verdienen. Und sie würde es schaffen, so schwor sie sich jetzt, dass weder sie noch ihre Mutter weiter als Dienstboten oder gar als Arbeiter auf einer Plantage leben mussten.
Kapitel 4
J ean hatte auf den Kissen unter der Zeltplane die Beine ausgestreckt und die Augen geschlossen. Aber er schlief nicht, das wusste Julie ganz genau. Von Zeit zu Zeit zuckten seine Mundwinkel als Reaktion auf Gesines Klagen. Ebenso zuckten die Ruderer hin und wieder verdächtig mit den Schultern, ein untrügliches Zeichen, dass auch sie sich das Lachen verkniffen. Karini saß vorne im Boot und senkte entweder den Blick auf den hölzernen Bootsboden oder schaute verlegen voraus auf den Fluss. Julie selbst saß an der Seite mit Helena auf dem Arm und beobachtete liebevoll ihre Tochter, die durch das sanfte Schaukeln des Bootes in einen tiefen Schlaf gefallen war. Ein echtes surinamisches Kind, befand Julie stolz.
Gesine hatte ihren Platz mittig zwischen Jean und Julie. Jean hatte ihr erklärt, dass das Boot dort am wenigsten schwankte, und so saß sie nun abwechselnd aufrecht oder sie ließ sich nach hinten in eine halb liegende Position sinken, um sich gleich wieder ruckartig aufzusetzen, begleitet von einem stetig leisen Gejammer über die schrecklichen Bootsfahrten und der immer wiederkehrenden Frage, warum man in diesem Land keine anständigen Straßen gebaut hatte.
»Das ganze Land ist doch von Flüssen durchzogen, die Boote sind also sehr praktisch«, hatte Jean ihr erklärt. Aber Gesine hatte offensichtlich keinen Sinn für Pragmatik.
Julies Gedanken wanderten zurück zum Beginn des Tages. Als sie am frühen Morgen mit der Droschke zum Hafen gefahren waren, war Gesine noch guter Dinge gewesen. Ihre Stimmungwar jedoch gekippt, als sie das Boot erblickt hatte, das ihr Gepäck auf die Plantage bringen sollte.
»Nein, damit kommt mein Hab und Gut nicht sicher an«, hatte sie sich aufgeregt, während der zahnlose Bootsführer bereits
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