Die Blume von Surinam
Ruhe. Sie konnte ihren Blick nicht von Masra Pieter wenden, der nun keinen Laut mehr von sich gab. Dann machte sie zwei schnelle Schritte zum Regal, schnappte sich eine andere Kalebasse, füllte sie, so rasch es ging, mit Wasser und rannte zurück zum Gästehaus und in die Kammer ihrer Mutter. Bogo schlief immer noch, und auch ihre Mutter hatte die Augen jetzt geschlossen. Inikas Herz pochte bis zum Hals. Leise setzte sie sich wieder auf ihren Platz, als wäre nichts passiert. Sie musste das vergessen. Sie wusste, dass sie das konnte. Es war ja nicht das erste Mal.
Am nächsten Morgen wurde sie unsanft von Bogo geweckt, der kräftig an ihr rüttelte. Aufgeregt zeigte er nach draußen auf den Hof. Schlagartig kamen ihr die Geschehnisse der Nacht in den Sinn. Wie hatte sie nur so töricht sein können zu glauben, es vergessen zu können? Das machte es noch lange nicht ungeschehen, sicher wussten schon alle Bescheid. Inika rappelte sich auf, strich ihr Kleid glatt und trat aus dem Gästehaus. Innerlich zitterte sie vor Angst. Jetzt würde man sie des Mordes an Masra Pieter beschuldigen! Sie folgte Bogo auf wackeligen Beinen zum Kochhaus, äußerlich um einen möglichst unschuldigen Ausdruck bemüht. Dort standen Misi Juliette, Masra Jean und Masra Martin mit betroffenen Gesichtern.
»Inika!« Misi Juliette kam Inika ein paar Schritte entgegen. »Habt ihr heute Nacht irgendetwas gehört?«
Inika war verwirrt. Etwas gehört? Wenn die Misi doch wusste, dass Inika in die Geschehnisse der Nacht verwickelt war, warum stellte sie dann eine solche Frage? Es sei denn, die Misi wusste gar nicht … Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf, und Inika fand keine andere Erklärung für diese Frage. Aber dann … Inika bemühte sich um einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck. Wenn sie eines gelernt hatte in den letzten Jahren, dann die Fähigkeit, ihr Inneres nicht nach außen zu kehren und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das hatte ihr mehr als einmal geholfen. »Nein, Misi, warum?«
Misi Juliette allerdings hob nur die Arme. »Was ist denn nur passiert … wer könnte denn so etwas tun?«
»Julie, wir müssen das melden.« Masra Jean trat an die Misi heran. Abschätzend warf er einen Blick auf Masra Martin. »Wo warst du heute Nacht?«
»Jean, du glaubst doch nicht, dass Martin …« Die Fassungslosigkeit stand der Misi im Gesicht geschrieben.
»Nein … aber irgendjemand von der Plantage muss es gewesen sein.«
Masra Martin schüttelte den Kopf. »Ich war mit Henry lange am Fluss, wir … wir haben geredet.«
Misi Juliette sah suchend zum Plantagenhaus. »Henry? Wo steckt er eigentlich?« Sie lief zurück zum Haus, kam aber kurze Zeit später aufgelöst zurück. »Jean! Henry ist fort!«
Inika ging zurück zu ihrer Mutter. Ihr hallten die Worte von Masra Pieter im Kopf nach. Bastardsohn hatte er Henry genannt, und dass Henry kein Recht auf Rozenburg hätte, hatte er gesagt. Inika war nicht dumm, sie konnte eins und eins zusammenzählen. Die Geschichte um den angeblichen leiblichen Vater von Henry, den Misi Juliette erschlagen hatte. Masra Jean … und dass Misi Juliette auf Masra Pieter nie gut zu sprechen gewesen war. In ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft, während sie die kalten Wickel ihrer Mutter wechselte. Wenn Henry nicht der Erbe von Rozenburg war, dann … dann wäre Masra Martin der Einzige, der ein Anrecht auf Rozenburg hatte. Nicht die schlechteste Wahl …
Waar het hart u naar toe leidt
Wohin das Herz dich führt
Surinam, Vereinigtes Königreich der Niederlande 1880–1881 Paramaribo, Plantage Rozenburg, Plantage Watervreede, Amsterdam
Kapitel 1
K arini schrak auf, als das Boot im Hafen von Paramaribo anlegte.
Kiri hatte ihrer Tochter auf der Plantage eilig einige Sachen zusammengesucht und in einen Sack gepackt, dann zwei Männer aus dem Dorf geholt und sie zusammen mit Karini ins Boot gesetzt. Karini hatte während der Fahrt gedankenversunken auf das Wasser gestarrt und kaum bemerkt, dass es dunkel geworden war.
Vom Hafen aus machte sie sich nun mit schweren Beinen auf zum Kinderhaus von Misi Erika. Sie war schrecklich müde, und ihr Körper schmerzte. Als sie am Kinderhaus ankam, schaffte sie es noch zu klopfen, um dann in der Tür Misi Minou in die Arme zu sinken.
Am nächsten Morgen wurde Karini von den Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht geweckt. Sie spürte, dass sie in einem Bett lag, und genoss für einen Moment die Weichheit der Laken. Dann schob sich plötzlich
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