Die Blume von Surinam
den Feldern, und sie hatte keine Ahnung, was sie im Arbeiterdorf erwartete. Sie war von den ehemaligen Sklaven und auch von den Maroons einige ihr fremde Feste und Rituale gewohnt, und sie war neugierig, was dort vor sich ging.
Im Dorf hatten sich bereits etliche Schwarze als Schaulustige eingefunden. Leise murmelnd bestaunten sie die Prozession, die gerade zwischen den Hütten entlangkam. An der Spitze trugen die Männer Fackeln und große Bananenpflanzen, die mit einem Sari umwickelt waren und sogar Perücken aus Grasbüscheln trugen. Begleitet wurde der Zug von Tanz und einem beschwörenden Gesang, zu dem die großen Bananenpflanzenpuppen sich zu bewegen schienen.
Julie und der Hauslehrer beobachteten das Geschehen aus dem Hintergrund. Die Inder schritten einmal durch das ganze Dorf, um dann wieder in den Bereich zurückzukehren, in dem ihre Hütten standen. Die Dunkelheit war inzwischen hereingebrochen, und die gesamte Prozession wurde nur vom Schein der Fackeln erhellt. Julie und Paul Rust folgten dem Zug. Was Julie dann auf einem freien Platz zwischen den Hütten im Feuerschein erblickte, ließ ihr zunächst den Atem stocken. Dort hatten die indischen Arbeiter einen bunt geschmückten Altar aufgebaut, auf dem eine große Figur stand.
»Ich glaube, das soll die Göttin Durga darstellen«, flüsterte Paul Rust, der fasziniert auf das Schauspiel schaute.
Julie ahnte, was Karini so erschreckt hatte: Die große Figur war offensichtlich aus Stoff und Gras und allerlei sonstigen Materialien zusammengesetzt. Sie sah auf den ersten Blick menschlich aus, auf den zweiten aber erkannte Julie insgesamt zehn Arme, in deren Händen die unterschiedlichsten Waffen steckten. Im Schein der Fackeln schien sich die Figur zu bewegen.
Paul Rust beobachtete aufmerksam das Geschehen zwischen den Hütten. »Wussten Sie, dass in der indischen Gesellschaft einganz anderes System herrscht als bei uns?« Er deutete auf die einzelnen Grüppchen von Menschen, die zusammenstanden. »Die Inder haben ein sogenanntes Kastensystem: Jeder wird in seine Stellung hineingeboren und kann diese auch nicht verlassen. Aus seiner Kaste kann man nicht heraus, allerhöchstens im nächsten Leben. Die unteren Kasten haben ein schweres Los, sie sind in Indien das, was hier einst die Sklaven waren. Die Menschen der einzelnen Kasten bleiben dann auch am liebsten unter sich.«
Julie betrachtete ihn interessiert von der Seite. Sie war fasziniert von seinem Wissen und lauschte seinen Worten aufmerksam. So genau hatte sie sich mit der Kultur der Inder nicht befasst. Plötzlich aber verstand sie, was Kadir Jean am Tag der Ankunft auf der Plantage mit dem Wort castes zu erklären versucht hatte. Offensichtlich hatten die Leute deswegen nicht zusammen in den Hütten leben wollen.
Julie ließ ihren Blick zurück zur Figur wandern und deutete Paul Rust an, dass sie sich zurückziehen wollte. Sie hatte genug gesehen. Auch die Schwarzen hielten respektvoll Abstand, war ihnen diese Zeremonie doch ebenso fremd wie den Weißen.
Noch weitere vier Tage und Nächte wurde im indischen Teil des Dorfes gefeiert. Henry und Martin beäugten am Tag interessiert den Altar mit der Figur. Julie hatte ihnen aber befohlen, Distanz zu wahren. »Wir müssen ihre Religion respektieren, habt ihr das verstanden?«
Martin konterte spitz: »Die einzig richtige Religion ist die der Christen! Das, was sie da machen, ist Götzenverehrung.«
Julie wollte gerade etwas erwidern, als Jean ihr mahnend die Hand auf die Schulter legte. Julie aber fühlte sich an Martins Vater und seine Ansichten erinnert, mit denen sie nie zurechtgekommen war. Sie hatte sich häufig mit Pieter gestritten, als sie gezwungen gewesen war, mit ihm unter einem Dach auf der Plantage zu leben. In der Zeit, in der er das Sorgerecht für Henry an sich gerissen und sie erpresst hatte, sodass sie monatelang keinenEinfluss auf Pieters Treiben auf der Plantage gehabt hatte, war sein wahres Wesen hervorgebrochen. Julie hatte nie herausgefunden, warum er solch einen Hass auf alle Farbigen in sich trug. Diese Zeit der Hilflosigkeit hatte eine tiefe Wunde in ihrer Seele hinterlassen.
Kapitel 11
I ch freue mich sehr, dass Erika uns besuchen kommt.« Julie legte den Brief beiseite und betupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn. Es war Ende Februar, und nach der kleinen Regenzeit war es sehr schnell drückend heiß geworden. Das ließ erahnen, dass die große Regenzeit zwischen April und August auch in diesem Jahr starke,
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