Die Blume von Surinam
Zug, nicht sie mit ihren Ohnmachtsanfällen oder gar ihr Vater mit seiner Bevormundung. Ab jetzt würde sie tun, was er sagte.
Das Schiff passierte den Noordhollands Kanaal im eisigen Wind des 12. Januar, um dann bei Den Helder in die Nordsee zu gelangen. Anschließend ging es in westliche Richtung auf England zu. Die Insel begrüßte sie mit den Kreidefelsen von Dover, und Heerscharen von Möwen begleiteten das Schiff. Ab dort wurde der Kanal breiter, und nur wenig später, bei günstigem Wind und mäßig ruhiger See, gelangten sie in den Atlantischen Ozean.
Wim stand an Deck, beschwingt von einem Gefühl von Freiheit. Ganz so, als hätte er die Last, die auf seiner Seele ruhte, an Land zurückgelassen. Seemeile um Seemeile wurde ihm leichter ums Herz. Der Wind, der salzige Geschmack auf den Lippen und das stetige Auf und Ab des Schiffes, das sie unermüdlich weiterbrachte, gaben ihm neuen Mut.
Gesine schmollte derweil in der kleinen Kabine. Sie hatte nichts übrig für die Schönheit des offenen Meeres. Sie hätte es genossen, jeden Tag ein anderes Kleid an Deck zur Schau tragen oder abends ihren Schmuck präsentieren zu können, geschmeichelt von den bewundernden Handküssen der männlichen Passagiere. Doch bis auf die ältere Frau eines jüdischen Händlers gab es keine Damen auf dem Schiff, die Gesine beim Flanieren hätte beeindrucken können, und auch die männlichen Passagierewaren nicht die Art von Männern, die sie mit Bewunderungen überhäuften.
Wim hatte sich die anderen Passagiere während der ersten Morgenmahlzeit, die aus einem undefinierbaren Brei bestand, angesehen. Bis auf zwei Männer in den Dreißigern bis Vierzigern waren überwiegend betagtere Mitreisende an Bord. Wim fragte sich, warum sie diese unbequeme und mühevolle Reise auf sich nahmen.
An Deck stand er meist für sich allein. Die älteren Passagiere schienen nicht sehr kontaktfreudig zu sein und zeigten bis auf einen kurzen Gruß selten eine Regung, wenn man ihnen begegnete. Auch bei den Mahlzeiten hatte Wim noch keine Kontakte knüpfen können. Er saß neben Gesine am Tisch, flankiert von dem älteren jüdischen Ehepaar und zwei Schiffsoffizieren. Zwar versuchte er, seine Mitreisenden mit höflicher Konversation zu einem Gespräch zu ermuntern, die Antworten fielen allerdings eher knapp und mürrisch aus. Die Frau des jüdischen Händlers hatte Gesine als Gesprächspartnerin auserkoren, weshalb Gesine bereits nach wenigen Tagen die Mahlzeiten lieber allein in der Kabine einnahm.
Wim ging, sooft es das Wetter erlaubte, an die frische Luft. An Deck musste er allerdings aufpassen, den Matrosen, die unentwegt in die Takelage stiegen, Segel rafften oder das Deck putzten, nicht im Weg zu stehen. Immer wieder zog es Wim hierher. Fast liebevoll strich er über das glatt geschliffene Holz der Reling. Wo dieses Schiff wohl schon überall gewesen war? Wie viele Stürme hatte es überstanden, welche Schicksale hatte es erlebt?
»Was für ein herrlicher Tag. Am Nachmittag passieren wir die Azoren.«
Wim schreckte auf, als er plötzlich eine Stimme neben sich hörte. Es war einer der jüngeren Männer, hochgewachsen, mit krausem dunkelblondem Haar, das jetzt unbändig im Wind um seinen Kopf zu tanzen schien. Seine grünen Augen, die einegewisse Fröhlichkeit versprühten, waren an Wim vorbei in die Ferne gerichtet.
»Ja, einer der Matrosen sagt, wir haben Glück, hier kann das Wetter auch ganz anders sein«, antwortete Wim, der sich über das Gesprächsangebot freute. Er hatte durchaus die Hoffnung gehegt, bereits auf dem Schiff Kontakte zu knüpfen. Nicht zuletzt, weil er nicht wusste, ob Juliette ihn überhaupt aufnehmen würde. Von dieser Befürchtung wiederum wusste Gesine nichts. Wim hatte ihr nicht gesagt, dass die zeitliche Planung nicht erlaubt hatte, auf eine Antwort aus der Kolonie zu warten.
Der Mann stellte sich neben ihn, stützte die Arme auf die Reling und atmete ein paarmal tief ein und aus. Dann wandte er sich an Wim.
»Thijs Marwijk mein Name.« Er reichte Wim die Hand.
»Vandenberg, Wim Vandenberg, es freut mich.«
Thijs Marwijk nickte ihm freundlich zu.
»Und, was treibt Sie in die grüne Hölle? «, fragte er lachend.
»Ich … wir, also ich und meine Frau, besuchen dort eine Verwandte.«
»Hm … «
»Und Sie? Geschäftliches, nehme ich an?« Die akkurate, moderne Kleidung ließ Wim darauf schließen, dass Marwijk ein Handelsreisender war.
Sein Gesprächspartner schmunzelte. »Nicht nur, aber schon ein
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