Die Bluterbin (German Edition)
ihre Vorfreude immer größer. Der große Platz vor der Kathedrale, auf dem es normalerweise vor Menschen nur so wimmelte, lag verlassen vor ihr. Selbst die Bettler und die unzähligen stromernden Katzen und Hunde hatten sich irgendwo verkrochen.
Mit klopfendem Herzen trat Marie durch das große Portal. Einige Frauen beteten vor der Heiligen Jungfrau und trugen ihr ihre Anliegen vor. Andere Gläubige blieben im äußeren Seitenschiff stehen und bestaunten das große Doppelfenster mit dem bekrönenden Oculus.
Sie schienen Bauern zu sein. Unfreie, die darauf hofften, dass sie in der Stadt Arbeit finden und ihre Freiheit gewinnen würden. Das neue Gesetz, dessen Inhalt besagte, dass jeder Unfreie nach einem Jahr in der Stadt seine Freiheit erlangen konnte, wenn es seinem Besitzer bis dahin nicht gelungen war, ihn aufzuspüren und zurückzufordern, hatte sich schon längst bis zu den entlegensten Dörfern herumgesprochen.
Viele der Bauern litten um diese Jahreszeit bitteren Hunger, während sich ihre Herren, die Fürsten und Grafen, mit den Früchten ihrer Arbeit fette Bäuche anfraßen.
Marie betrat die kleine Kapelle und kniete vor der Heiligen Jungfrau nieder. Sie dachte an Katharina, die ihre Familie verlassen hatte und schon bald eine verheiratete Frau sein würde.
Ihre Hand fuhr hinunter zu dem Beutel an ihrem Gürtel, in dem sie den kleinen Vogel verwahrte. Sie unterdrückte den Wunsch, ihn herauszunehmen, um ihn zu betrachten, und begann stattdessen kaum hörbar zu Gott zu sprechen.
In der heiligen, von Weihrauch geschwängerten Atmosphäre der Kathedrale konnte sie seine Anwesenheit deutlich spüren. Sie redete sich alle ihre Sorgen und Ängste von der Seele, und als ihr nichts mehr einfiel, stand sie einfach nur da und träumte vor sich hin.
Dass sie seit einer geraumen Zeit beobachtet wurde, bemerkte sie nicht. Robert de Forez hatte nach Beendigung seines Unterrichts die Kathedrale aufgesucht, um ein wenig für sich allein sein zu können. Er war der einzige Sohn des Grafen Guido de Forez und der Mathilda von Artois, der Gräfin von Courtenay und Nevers. Sein Vater hatte ihn nach Bourges gebracht, damit er dort studieren konnte. Nach Beendigung seines Studiums würde er dann nach Forez zurückkehren und die Verwaltung der Grafschaft übernehmen.
Robert nahm das Lernen sehr ernst. Im Gegensatz zu seinen Freunden, allesamt Söhne von Adligen oder reichen Bürgern, bereitete ihm das Studieren große Freude, und er verbrachte seine freien Stunden lieber in der Kathedrale oder der Bibliothek als in den Tavernen und Schenken der Stadt, die seine Kameraden mit Vorliebe aufzusuchen pflegten, um sich das Leben mit Glücksspielen und Trinken zu versüßen.
Die Folge davon war, dass nicht wenige ihrer Väter große Summen aufbringen mussten, um die unüberlegten Streiche ihrer Söhne entweder zu vertuschen oder zu bereinigen und deren Schulden zu bezahlen.
Er erkannte Marie sofort und musste an den merkwürdigen Ausdruck in ihren dunklen Augen denken, nachdem er sie aufgefangen und vor dem Fallen bewahrt hatte. Sie wirkte so schutzlos und einsam, wie sie im Gebet versunken dastand und nichts um sich herum wahrzunehmen schien. Dabei war sie so schön wie ein Engel. Er wollte sie nicht stören und suchte sich deshalb einen Platz, von dem aus er sie unbemerkt beobachten konnte.
Nach einiger Zeit läuteten die Glocken die Hora vesperalis, den Sonnenuntergang, ein. Sobald der Glöckner den Turm nach dem Läuten wieder hinuntergestiegen wäre, würde der Sakristan die Gläubigen dann dazu auffordern, die Kathedrale zu verlassen, und hinter ihnen die Portale der Kirche bis zum nächsten Tag verschließen.
Marie erhob sich ohne Eile und begab sich zum Ausgang. Robert beeilte sich, ihr zu folgen. Als er sie beinahe eingeholt hatte, zögerte er jedoch.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und plötzlich wusste er nicht mehr, was er ihr sagen sollte.
In diesem Moment drehte Marie sich um, als ob sie gespürt hätte, dass ihr jemand folgte. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als sie Robert erkannte. Schüchtern lächelte sie ihn an, wandte sich wieder um und verließ mit raschen Schritten die Kathedrale.
Robert sah ihr nach. Er kam sich wie ein Trottel vor. Was war nur los mit ihm? Wie kam es, dass ein Mädchen ihn derart verwirren konnte? Er strich sich die schulterlangen dunkelblonden Locken aus dem Gesicht und trat ebenfalls aus dem Portal. Eisige Kälte schlug ihm entgegen.
Die Dämmerung zog bereits
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