Die Bluterbin (German Edition)
aufgestellt. Ungerührt sahen die Leute zu, wie dieser den Jungen zum Tisch schleifte und seinen rechten Arm auf die Holzplatte drückte. Sein Gehilfe packte den mageren Arm und band ihn mit einem groben Hanfseil so fest auf die Tischplatte, dass das Seil tief in die Haut des Jungen schnitt.
Dieses räuberische Gesindel war eine wahre Plage, und es geschah dem kleinen Lump ganz recht, dass er erwischt worden war, bevor er noch mehr stehlen konnte.
Der Büttel wandte sich an die Menge und forderte sie durch eine Handbewegung auf zu schweigen. Mit drohend erhobenem Schwert stellte sich der Scharfrichter neben ihn, bereit, seine Pflicht zu erfüllen.
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge, als er das riesige Eisenschwert Unheil verkündend über den Köpfen der Leute schwang.
„Dieser Junge ist ein Beutelschneider und Dieb, der ehrbaren Bürgern ihr Hab und Gut stiehlt, das sie mühsam im Schweiße ihres Angesichts erworben haben“, brüllte der Büttel. Die Menge quittierte seine Worte mit lautem Beifall.
Voller Verachtung sah er auf den Jungen hinab.
„Gibst du deine Schuld zu?“
Namenloses Grauen packte den Jungen. Seine Lippen zitterten, und er brachte vor Angst und Entsetzen keinen Ton heraus.
Triumphierend wandte sich der Büttel an den Scharfrichter.
„Laut Gesetz wird er dafür seine rechte Hand verlieren, damit jeder, der ihn sieht, weiß, wen er vor sich hat.“
Das Raunen verstummte sofort. Gespannte Erwartung lag über dem Platz.
Marie wandte ihren Blick von dem Jungen ab und versuchte gegen den Schwindel anzukämpfen, der den Boden unter ihren Füßen wanken ließ wie ein Schiff auf den Wellen. Mit letzter Kraft drängte sie sich durch die Menge nach vorne.
„Der Junge ist kein Dieb.“ Ihre Stimme drang glockenhell durch die kalte Luft.
Die Köpfe der Menschen fuhren herum, alle Blicke hefteten sich auf das zierliche Mädchen. Empörtes Stimmengewirr ertönte.
Die Miene des Büttels verfinsterte sich. Er liebte diesen Augenblick kurz vor der Vollstreckung des Urteils, denn er genoss die Macht, die er in diesem Moment besaß. Sie allein wog die Verachtung der ehrbaren Bürger auf, die seinen Blick genauso mieden wie den seiner Frau und seiner Kinder.
Der Scharfrichter wartete auf das vereinbarte Kopfnicken des Büttels. Feine Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Lange würde er das Schwert nicht mehr oben halten können. Er konnte es aber auch nicht herunternehmen, weil das Senken des Schwertes vor der Vollstreckung des Urteils Unglück über ihn bringen würde.
Es begann wieder zu schneien. Feine weiße Schneeflocken schwebten lautlos vom Himmel herab und legten sich wie ein weißer Schleier auf Maries Haar und ihren Umhang. Die Menschen traten zur Seite, sodass sie alsbald für jedermann gut zu erkennen war.
Schützend stellte sie sich vor den Jungen und strich ihm über das verfilzte Haar. Dann öffnete sie ihren Beutel und reichte ihm den Jadevogel.
„Ich bringe ihn dir zurück, er gehört dir.“ Ihre Angst um den Jungen war größer als die vor dem grobschlächtigen, hartherzigen Mann, der sie wütend anstarrte und seine Hände bedrohlich in die Hüften stemmte.
Ihre Knie zitterten vor Aufregung, als sie sich an ihn wandte und ihm direkt in die harten Augen sah. Er versuchte seinen Blick abzuwenden, doch es gelang ihm nicht. Der ärgerliche Ausdruck in seinem Gesicht wich alsbald ungläubigem Staunen.
Die Stille über dem Platz war jetzt mit beiden Händen greifbar. Noch wusste niemand, in welche Richtung die Stimmung umschwenken würde. Mit offenem Mund starrten die Menschen auf den Büttel und das Mädchen und warteten ab, was weiter geschehen würde.
Plötzlich riss die graue Wolkendecke auf. Ein Sonnenstrahl fiel auf Marie und tauchte sie in strahlendes Licht. Der Schnee in ihrem Haar und auf ihrem Umhang glitzerte wie kostbare Kristalle.
Die Heilige Jungfrau schien leibhaftig erschienen zu sein, unschuldig und rein wie ein Engel.
Ehrfürchtig wichen die Menschen zurück. Einige sanken von heiligen Schauern geschüttelt auf die Knie und begannen laut zu beten.
Es war ein Zeichen des Himmels, ein Wunder, das der Herr vor ihren Augen vollbracht hatte.
„Macht den Jungen endlich los, er ist unschuldig“, brüllte jemand.
Andere Stimmen fielen in die Forderung mit ein.
Der Scharfrichter warf dem Büttel einen verzweifelten Blick zu. Es war ihm nicht möglich, das Schwert noch länger in der Luft zu halten.
Doch der Büttel reagierte nicht. Verwundert
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