Die Bluterbin (German Edition)
erschrocken zu Wort und suchte Marthas Blick, doch die wich ihr aus. Voller Angst wandte sie sich darauf an Eleonore.
„Wenn Vater einmal etwas gesagt hat, dann bleibt es auch dabei, nicht wahr, Mutter?“ Eleonore nickte, und Agnes begab sich wieder zufrieden an ihre Näharbeit. Martha flehte und bettelte, doch es nützte ihr nichts.
Mit der Zeit wurde sie jedoch ruhiger und begann damit, Henry heimlich zu beobachten. Auch wenn er nicht gerade dem Ritter oder Kaufmann ihrer Träume entsprach, war er doch ein gut aussehender Mann und würde eines Tages das Unternehmen ihres Vaters übernehmen. Dann wäre sie die Hausherrin. Und als sie an diesen Punkt ihrer Überlegungen gekommen war, fiel es ihr auf einmal nicht mehr ganz so schwer, sich mit ihrem Schicksal abzufinden.
Eleonore war insgeheim erleichtert, denn sie wusste, wie störrisch Martha sein konnte. Außerdem gab es nun wirklich schlechtere Männer als Henry, und sie war davon überzeugt, dass ihr zukünftiger Schwiegersohn Martha gut behandeln würde.
11
Das Leben im Hause Machaut nahm wieder seinen gewohnten Gang.
Und als Marie einige Tage später an einem Wintermorgen gemeinsam mit Martha und Agnes das Haus verließ, war es klirrend kalt.
Es hatte die ganze Nacht über geschneit, und die Mädchen sahen bewundernd auf den glitzernden Neuschnee, der die Stadt mit einer weißen Decke überzogen hatte und selbst die Berge von Unrat in den Gassen überdeckte. Es war Weihnachten und Elsa hatte auf Eleonores Anweisung schon früh am Morgen angefangen, Brot für die vielen hungernden Bettler zu backen. Wie jedes Jahr im Winter hatten diese den Strom der reisenden Kaufleute abgelöst und gesellten sich nun zu den Krüppeln und Aussätzigen, die sich in der Hoffnung auf etwas Essbares überwiegend auf dem Kathedralenvorplatz aufhielten, wo sie an das Gewissen der Gläubigen appellierten und sich zwischendurch immer wieder in der überfüllten Kathedrale aufwärmten.
Jedes der drei Mädchen trug einen großen Korb voll duftenden Brotes am Arm, um es an die Hungrigen zu verteilen. Als die Mädchen den großen Platz erreichten, waren sie innerhalb kürzester Zeit von einer riesigen Traube von Bettlern, Krüppeln und Aussätzigen umringt. Männer, Frauen und Kindern starrten ihnen aus flehenden Augen entgegen.
Maries Herz zog sich vor Mitleid zusammen, als sie in die bleichen Gesichter der Ärmsten unter den Armen sah. Rasch begann sie ihr Brot zu verteilen, wobei sie darauf achtete, dass die Frauen und Kinder zuerst etwas zu essen bekamen. Der Korb war schon fast leer, aber noch immer drängten sich Menschen aus den hinteren Reihen nach vorne, aus Angst, nichts mehr abzubekommen. Es kam zu einem regelrechten Gerangel, und die Bettler rissen Marie das Brot förmlich aus der Hand.
Ein ausgemergelter Junge mit tief in den Höhlen liegenden Augen kam zu spät, er war nur mit Lumpen bekleidet. Das rotblonde Haar fiel ihm wirr ins Gesicht und verdeckte nur teilweise die tiefe Narbe, die sich quer über seine hohe Stirn zog.
Gerade reichte Marie einer Frau mit einem Säugling im Arm das letzte Brot. Maries Umhang hatte sich durch das Gedränge halb geöffnet und gab den Blick auf ihren seidenen Beutel frei, den sie an einer Schnur befestigt am Gürtel trug. Ein gieriger Ausdruck trat in die grünblauen Augen des Jungen. Das Mädchen war kein Gegner für ihn.
Er nutzte das Gedränge um Marie herum aus und sprang mit einem Satz auf sie zu. In seiner Hand blitzte ein Messer auf. Mit einer schnellen Bewegung zerschnitt er ihre Kordel und nahm den Beutel an sich. Dann war er auch schon wieder in der Menge untergetaucht.
Das Ganze war so schnell vor sich gegangen, dass Marie im ersten Moment gar nicht begriff, was überhaupt geschehen war.
Erst als ihr Blick auf die abgetrennte Kordel fiel, bemerkte sie, dass ihr Beutel verschwunden war und mit ihm ihr geliebter Jadevogel.
Die Bettler begannen sich sofort zu zerstreuen, als sie feststellten, dass es hier nichts mehr zu holen gab.
Allein stand Marie auf dem Kathedralenvorplatz und sah sich suchend nach ihren zwei Schwestern um, doch die waren längst verschwunden. Voller Ekel angesichts der vielen Frostbeulen und Geschwüre in den Gesichtern und auf den ausgestreckten Händen der Bedürftigen, hatten sie sich beeilt, ihr Brot möglichst schnell loszuwerden. Innerhalb kürzester Zeit waren ihre Körbe leer gewesen, und sie hatten sich erleichtert auf den Rückweg begeben, froh, den Anblick der Bettler nicht länger
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