Die Bluterbin (German Edition)
strich er sich über die Stirn. Er fühlte sich, als würde er aus einem tiefen Traum erwachen.
Langsam senkte sich das Schwert über ihren Köpfen nach unten. Die Leute hielten den Atem an, doch nichts geschah. Der Scharfrichter steckte das Schwert in die lederne Scheide zurück und wandte sich ab.
Sofort sprang ein kräftiger Mann vor und versuchte, den Jungen zu befreien. Ein weiterer kam ihm mit seinem Messer zu Hilfe und zerschnitt das Hanfseil, mit dem der Junge an den Tisch gefesselt war.
Der Büttel reagierte auf all das nicht. Seine schwieligen Hände falteten sich zum Gebet, und er richtete seinen Blick gen Himmel, als suche er dort nach einer Antwort auf seine Fragen. Er verstand nicht, was mit ihm geschehen war, und doch war er noch nie so glücklich gewesen wie in diesem Augenblick.
Robert, der Marie keine Sekunde lang aus den Augen gelassen hatte, sah, wie sie wankte. Sofort eilte er zu ihr, um sie zu stützen.
Schon richtete sich die Aufmerksamkeit aller wieder auf Marie.
„Sie ist eine Heilige“, flüsterte eine ärmlich gekleidete Frau. Vor lauter Rührung liefen ihr dicke Tränen über die Wangen.
Zwei zerlumpte Gestalten stürzten auf Marie zu und berührten mit ihren Lippen den Saum ihres Gewandes.
„Sie ist keine Heilige, es ist Marie, die Tochter des Tuchhändlers, und sie ist von Dämonen besessen“, kreischte die Frau des Salzhändlers.
Sofort entstand ein wütendes Wortgefecht, bei dem sich zwei Lager bildeten.
„Bitte bringt mich von hier fort“, flüsterte Marie.
Robert kam ihrem Wunsch nur zu gerne nach. Der Streit wurde immer heftiger, und schon kam es zu den ersten Handgreiflichkeiten. Keiner der Menschen achtete mehr auf den jungen Mann und das Mädchen, die sich unbemerkt davonstahlen.
„Ihr seht erschöpft aus“, sagte Robert besorgt. „Ich werde Euch nach Hause bringen.“
Marie schüttelte den Kopf.
„Es geht mir gut. Ich würde gerne in die Kathedrale gehen, um Gott für Seine große Güte zu danken.“
Sie ließ es zu, dass er neben ihr die Kathedrale betrat, und warf ihm von der Seite einen verstohlenen Blick zu. Die Kathedrale war bis auf den letzten Platz besetzt, selbst zwischen den Gängen standen die Menschen dicht gedrängt.
Robert legte schützend seinen Arm um Maries Schulter und zog sie neben einen Pfeiler. Hunderte von Kerzen erleuchteten die Kathedrale, und der Geruch von Weihrauch und Wachs überdeckte die Ausdünstungen der vielen Gläubigen. Still vor Glück standen Robert und Marie eng nebeneinander und lauschten dem Gesang der Mönche. Beide wünschten sich, dass dieser Moment nie vorübergehen möge.
Von nun an trafen sie sich täglich.
Sie hatten ein verschwiegenes Plätzchen im großzügig angelegten Garten des Bischofs gefunden, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt waren und in Ruhe miteinander reden konnten. Robert wollte alles über Maries Familie wissen, und sie erzählte ihm von Elsa und ihren Schwestern. Doch mit dem feinen Gespür eines Liebenden merkte Robert, dass Marie etwas vor ihm zurückhielt. Dennoch drängte er sie nicht, es ihm zu erzählen, obwohl es ihm oft schwerfiel, vor allem wenn er spürte, dass sie traurig war. Nichts sollte ihr Glück trüben oder gar zwischen ihnen stehen. Um sie abzulenken, erzählte er ihr von seinen Eltern und dem Leben auf der Burg, von den Pferden und der Jagd, und Marie hörte ihm zu, glücklich darüber, dass er bei ihr war.
„Könntet Ihr Euch vorstellen, meine Frau zu werden und mit mir auf der Burg zu leben?“, fragte er eines Tages überraschend und nahm Maries Hand zärtlich in die seine. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er Marie erwartungsvoll ansah und auf ihre Antwort wartete.
Feine Röte stieg ihr in die Wangen, sie konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte, es konnte nur ein Traum sein, aus dem sie jeden Moment erwachen würde.
Ihre Liebe zu Robert erschien ihr vermessen und gleichzeitig so zerbrechlich wie das hauchdünne Glas, das der Vater ihr von einer Reise aus Venedig mitgebracht hatte, aber sie war auch voller Hoffnung. Es war, als würde sie nach den Sternen greifen, obwohl diese unerreichbar für sie waren, und sie bekam Angst vor ihrem eigenen Mut.
Robert beobachtete die widerstreitenden Gefühle, die sich deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegelten. Wie schön sie war. Es gelang ihm kaum, den Blick von ihr zu wenden. Er unterdrückte den Wunsch, sie an sich zu reißen und zu küssen, um sie nicht noch mehr zu erschrecken.
Wilde Freude
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