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Die Bluterbin (German Edition)

Die Bluterbin (German Edition)

Titel: Die Bluterbin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegard Burri-Bayer
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Dann öffnete er das Bündel. Es enthielt Käse, gepökeltes Fleisch und ein hart gebackenes Brot, das sich viele Tage lang halten würde, ohne zu verderben.
    „Das hast du gut gemacht“, lobte Robert.
    Das Gesicht des Jungen begann vor Freude zu strahlen. Er nestelte an dem Lederriemen um seinen Hals und zog einen kleinen Leinenbeutel hervor, den er unter seinem Wams verborgen hatte.
    „Ich habe ihn die ganze Zeit über aufbewahrt“, erklärte er entschlossen und reichte Marie den Beutel.
    Marie öffnete ihn. Der kleine Jadevogel glänzte im Schein des Feuers und ließ sie augenblicklich an ihre Schwester Katharina und an Elsa denken, die immer gut zu ihr gewesen war. Als sie an ihr Zuhause dachte, von dem sie so unvorstellbar weit entfernt war, wurde sie ganz schwermütig. Seit ihrer ersten Begegnung mit Robert war viel geschehen. Doch dann spürte sie, dass er sie beobachtete, und all ihre Trübsal war wie weggeblasen.
    Ohne ein Wort zu verlieren, hatte Robert sein Studium und seine Freunde aufgegeben und sich in große Gefahr begeben, nur um sie zu retten.
    Wie blind und teilnahmslos war sie nur die ganze Zeit über gewesen.
    Der Vogel in ihrer Hand gab ihr wieder Kraft. Sie war kein kleines Mädchen mehr, das die Wirklichkeit länger ignorieren konnte. Sie musste endlich erwachsen werden, so wie ihre Schwestern erwachsen geworden waren. Entschlossen wandte sie sich nun an den Jungen.
    Sie sah die Narbe auf seinem noch kindlichen Gesicht, und als sie ihm in die Augen sah, entdeckte sie Verletzungen, die ihm durch seine Einsamkeit und die kalte Gleichgültigkeit der Menschen entstanden waren.
    Diesem Jungen war ebenso übel mitgespielt worden wie ihr, doch er hatte es ertragen, ohne dass sein Herz erkaltet war. Sie legte ihm den Jadevogel in die Hand.
    „Ich möchte, dass du ihn behältst.“
    Der Junge wusste vor lauter Glück nicht mehr ein noch aus.
    Meister Raymond war gerührt. Es kam nicht alle Tage vor, dass man ein Mädchen traf wie dieses hier. Allein ihre bloße Anwesenheit ließ den Raum freundlicher erscheinen.
    Marie nahm Roberts Hand und drückte sie zärtlich. Sie wusste, dass er sie auch ohne Worte verstehen würde, und tatsächlich merkte Robert, dass Marie auf dem besten Weg war, die schrecklichen Erlebnisse der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und er war froh darüber.

25
    Elsa war die Einzige, die Marie vermisste, und das Haus der Machauts war zu einer kalten und leeren Wüste für sie geworden. Die restlichen Familienmitglieder vermieden es, ihren Namen auszusprechen. Es war fast so, als ob sie stillschweigend eine Absprache untereinander getroffen hätten. Elsa war empört. Anstatt jeden Tag gemeinsam für Marie zu beten, hatte sie eher den Eindruck, dass insgeheim alle froh über Maries Verschwinden waren.
    Selbst Marthas Hochzeit mit Henry fand wie geplant statt, und Martha blühte auf. Die Ehe bekam ihr gut und sie schien sogar regelrecht verliebt in ihren Mann zu sein, zumindest suchte sie seine Nähe, wann immer sie konnte.
    Henry seinerseits war überrascht von Marthas glühender Leidenschaft, die er nicht bei ihr vermutet hatte und die seine eigene immer wieder von Neuem erregte. Bald würde er Söhne haben, und allein der Gedanke daran erfüllte ihn mit unsäglichem Stolz. Er begrüßte es, dass Marie aus ihrer aller Leben verschwunden war und hoffte nur, dass es dabei bleiben würde, denn der merkwürdige Blick, den sie ihm manchmal zugeworfen hatte, hatte an seinem Gewissen gerüttelt und ihn jedes Mal an seine Sünden denken lassen, die er viel lieber vergessen hätte. Jetzt war sie jedenfalls fort und mit ihr zusammen die Dämonen, die er am meisten gefürchtet hatte.
    Wenn Elsa dagegen des Nachts in ihrer Kammer lag, malte sie sich stets die schlimmsten Dinge aus, die ihrem kleinen Mädchen zugestoßen sein könnten.
    Dann erhob sie sich von ihrem Strohlager und kniete auf dem kalten Boden, bis ihre Knie eisig waren und ihr wehtaten. Sie flehte Gott an, Marie beizustehen, und bat Ihn jeden Tag darum, eine Nachricht von Robert zu erhalten, die ihre quälende Ungewissheit endlich beenden würde. Doch sie war nicht die Einzige, die sehnsüchtig auf eine Nachricht hoffte.
    Die Warterei zehrte an Radulfus’ Nerven. Während der Abwesenheit des Erzbischofs mussten täglich neue Beschlüsse gefasst und Entscheidungen getroffen werden, ein Umstand, dem Radulfus früher immer gerne nachgekommen war, hatte er doch die Macht seines Amtes deutlich gemacht. Jetzt aber erledigte er

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