Die Blutgabe - Roman
müden Knochen und schmerzenden Muskeln auszuruhen. Selbst bei George beginnt der Enthusiasmus allmählich nachzulassen. Wir alle sind schweigsam und nicht gerade in Hochstimmung. Nicht einmal die Geister, denen wir immer noch nicht begegnet sind, interessieren uns noch besonders. Meine Mückenstiche kann ich mittlerweile schon nicht mehr zählen. Ich habe mich sogar an den Juckreiz gewöhnt. Hoffentlich erreichen wir bald das Dorf, das ist das Einzige, woran ich im Moment denken kann. Wenn wir dort Kraft getankt haben, wird es uns sicher wieder bessergehen.
Übermorgen, wenn alles gutgeht, sagt Angél.
Und ich bete zu allen indigenen Göttern, die hier vielleicht herumschwirren, dass er Recht behält.
25. Februar 2010
Ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was wir heute erlebt haben. Es steckt mir eiskalt in den Knochen, und ich fange sofort wieder an zu zittern, wenn ich daran denke. Aber irgendwie muss ich es loswerden, und wenn es nur auf dem Papier ist.
Am späten Nachmittag erreichten wir heute endlich das Dorf. Die Erleichterung, die ich verspürte, als die kleinen Hütten zwischen den Bäumen auftauchten, ist kaum in Worte zu fassen. Den anderen muss es ähnlich gegangen sein, selbst Angél, der all die Widrigkeiten doch viel gelassener erträgt als wir verweichlichten Nordamerikaner. Am liebsten hätte ich einen wilden Freudentanz aufgeführt.
Aber da wusste ich ja auch noch nicht, was uns im Dorf erwarten würde. Und jetzt, wo ich wieder im Schein meiner Lampe im Zelt sitze und nervös auf die Geräusche des Dschungels
lausche, kann ich mich kaum überwinden, es aufzuschreiben.
Das Dorf ist tot.
Nun steht es da. Allein der Anblick der Worte ruft die Bilder zurück in meinen Kopf. Und das Entsetzen. Ich verstehe nun nur zu gut, warum man uns vor dem Urwald im Osten gewarnt hat, auch wenn ich nicht im Geringsten begreifen kann, was dort in jenem Dorf vorgefallen sein muss. Ich weiß nur, dass ich so schnell wie möglich weit von hier fort will.
Geister. Ich könnte fast beginnen, daran zu glauben. Menschen – Menschen, die bei Verstand sind – würden so nicht handeln. Nicht aus freien Stücken.
Ich merke, wie meine Hand sich weigert, die Einzelheiten aufzuschreiben. Aber ich muss mich zwingen. Wie sonst soll ich heute Nacht auch nur ein Auge zumachen können?
Wir betraten also das Dorf, noch ganz euphorisch, dass wir es endlich bis hierher geschafft hatten. Aber anders als bei den Eingeborenen, die wir zuvor besucht hatten, kam uns niemand entgegen, um uns zu begrüßen. Überhaupt war niemand zu sehen. Und nichts zu hören. Als ob das Dorf verlassen wäre, das war mein erster Gedanke.
Aber was wir auf dem Dorfplatz am heruntergebrannten Feuer vorfanden …
Der Platz war voller Leichen. Überall Leichen.
Es müssen zwanzig oder mehr gewesen sein. Männer und Frauen, verteilt um die noch schwelende Glut. Ihre nackten Körper waren zum Teil seltsam verdreht und über und über mit Wunden bedeckt. Manche der Leichen waren eng aneinander gepresst, ihre Glieder ineinander verschlungen, und –
ich schwöre, ich habe es gesehen – sie hatten sich ineinander verbissen, als ob sie versucht hätten, sich gegenseitig bei lebendigem Leib aufzufressen.
Ich habe mich übergeben müssen. Mehrmals, bis Angél mich endlich an die Hand nahm, und wir flohen. Wir verließen das Dorf hastig und ohne zurückzusehen, obwohl wir doch alle wissen, dass Tote nicht aufstehen und einem folgen können. Nicht einmal George, der sonst immer alles analysieren muss, wollte versuchen, Näheres über die Todesursache herauszufinden. Ich wäre am liebsten gerannt – nur ist das im Dschungel schwer möglich. Wie wir durch das dichte Unterholz gekommen sind, könnte ich jetzt nicht mehr sagen. Wir sind einfach immer weiter gelaufen, so schnell es der Urwald zuließ, bis das Dorf weit hinter uns lag.
Aber die Furcht ist uns gefolgt wie die bösen Geister, vor denen man uns gewarnt hat. Sie lässt mich nicht mehr los. Die ganze Zeit habe ich diese Bilder vor Augen, diese Toten …
Ich muss aufhören. Ich ertrage es nicht, länger darüber nachzudenken. Vielleicht lassen mich Kelly und Trevor mit in ihr Zelt, auch wenn es noch so eng ist. Ich kann heute Nacht einfach nicht allein sein.
Cedric hob den Kopf von den Seiten des Tagebuchs und starrte mit leerem Blick in die Dunkelheit jenseits seines Schreibtischs. Er hatte das Gefühl, ein gewaltiger Felsbrocken würde auf seiner Brust liegen.
Vampire, die
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