Die Blutgabe - Roman
Tatsache, dass ich ihm bis heute nichts von den schrecklichen Erlebnissen im Urwald erzählt habe, bedrückt mich. Ich kann ihm auch dieses Tagebuch unmöglich zeigen, obwohl ich es versprochen hatte. Immer wieder suche ich Ausflüchte und fühle mich furchtbar dabei. Es ist, als würde ich ihn anlügen. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander. Aber wie soll ich es ihm erklären? Ich verstehe es ja selbst nicht! Dabei wünsche ich mir nichts mehr, als zu begreifen, was mit mir geschieht. Denn auch die anderen Dinge, die sich in meinem Körper verändern, kann ich nun nicht mehr beiseite schieben. Die Blutergüsse, die neuerdings ständig wie willkürlich auftauchen, obwohl ich dafür nie anfällig war. Die Tatsache, dass zu intensive Berührungen unangenehm, ja geradezu schmerzhaft sind. Das Gefühl, das Licht würde mich verbrennen, wenn ich in der Mittagszeit draußen bin. Und der Hunger. Dieser schreckliche Hunger, der immer stärker wird, begleitet von dieser unbegründeten Wut, die unablässig in mir brodelt. Ich wollte mit Kelly darüber sprechen, aber ich erreiche sie nicht. Sie kommt nicht zur Arbeit, hat sich Urlaub genommen, ebenso wie Trevor. Und auch George scheint wie vom Erdboden verschluckt.
Ich habe darüber nachgedacht, auch ein paar Tage frei zu nehmen. Aber ich muss immer an den Bluttest des peruanischen Arztes denken. Vielleicht hat er etwas übersehen?
Ich muss selbst Nachforschungen anstellen. Es lässt mir keine Ruhe. Ich m u s s Kelly erreichen, damit sie Professor Graham bittet, sein Labor benutzen zu dürfen. Vielleicht sollte ich einfach bei ihr vorbeifahren.
Ich muss wissen, was da in mir geschieht.
21. März 2010
Was wird nur aus mir? Was soll ich tun?
Gestern habe ich Kelly tatsächlich zu Hause angetroffen, und sie war einverstanden, unser Blut noch einmal zu untersuchen. Mit ihrer medizin- und biotechnischen Ausbildung kann sie so etwas doch viel besser und schneller, als ich es könnte. Zuerst war sie recht abweisend. Aber dann hat sie mir anvertraut, dass ihre Befürchtungen den meinen sehr ähnlich sind – nur ist es bei ihr noch weitaus bedrückender, da sich auch Trevor auf die gleiche Weise verändert. Sie waren immer so glücklich. Jetzt fallen sie täglich übereinander her wie wilde Tiere. Kelly hat mir die Wunden gezeigt, die Trevor ihr zugefügt hat. Mir läuft es immer noch kalt den Rücken hinunter, wenn ich daran denke.
Der Bluttest hat ein erschreckendes und zugleich auf morbide Art faszinierendes Ergebnis geliefert. Der Doktor in Lima hat tatsächlich etwas übersehen. Etwas Kleines, Unscheinbares – und doch hat es mich völlig kraftlos zurückgelassen: Es befinden sich Viren in unserem Blut. Zumindest glauben wir, dass es Viren sind. Sie sehen ähnlich aus wie die T-Phagen, die man aus der Bakteriologie kennt. Nur, dass sie keine Bakterien befallen. Sondern unser Blut. Ich bin keine Expertin, was Zellbiologie oder Immunologie betrifft, aber unter dem Elektronenmikroskop waren sie deutlich zu sehen. Der Kopf. Die spinnenartigen Beine, die sich an meine weißen Blutkörperchen
anheften. Sie sind die bösen Geister, von denen die Dorfbewohner uns gewarnt haben.
Der Arzt in Lima hatte recht. Die Mücken sind schuld. So muss es sein. Sie haben die Menschen im toten Dorf gestochen. Und dann uns. Und uns mit einer Krankheit infiziert, die wohl noch niemand hier in der westlichen Welt jemals gesehen hat. Die Erkenntnis ist niederschmetternd, vor allem, da ich fürchte, dass kein Arzt der Welt mir wird helfen können. Ich habe fremde DNA in mir. Sie verändert mich. Meinen Körper. Mein Leben. Zu den zuvor erwähnten Symptomen ist eine überwältigende Müdigkeit gekommen, die mich immer wieder ganz unerwartet überfällt. Und dieser Hunger. Dieser Hunger und die Wut …
Wahnsinn, hat der Dorfälteste gesagt. Ist es das, was mir bevorsteht? Mir und auch Kelly, Trevor und George? Werden wir enden wie die Leichen, die wir gesehen haben? Ich habe Angst.
Fürchterliche Angst.
Ich sollte gehen. Fort von hier, bevor ich jemandem schade, der mir teuer ist.
Aber ich kann nicht. Ich kann es einfach nicht.
Ich kann sie nicht verlassen.
Aber was soll ich sonst tun? Was soll aus mir werden?
Rettet mich. Irgendjemand …
Die restlichen Seiten des Tagebuchs waren leer. Cedrics Hände zitterten, als er es noch einmal durchblätterte und einen Blick in die Dokumententasche am hinteren Buchdeckel warf. Er hatte nichts übersehen. Das war alles, was dieses Tagebuch an
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