Die Blutgabe - Roman
angenehm ausgeruht.
Und trotzdem muss ich zugeben, dass ich seit gestern Nacht wieder ein mulmiges Gefühl in der Magengegend habe.
Das kleine Fest am Lagerfeuer, auf das ich mich so gefreut hatte, war zu Anfang wirklich sehr nett und lustig. Die Dorfbewohner haben für uns gekocht, musiziert und getanzt. Aber nach dem Essen hat Angél ihnen unsere weitere Route geschildert. Und das war der Moment, in dem die Stimmung plötzlich kippte. Der Dorfälteste, ein wirklich uralter Mann mit tiefen Schluchten in der Haut, war den ganzen Abend fröhlich und redselig. Doch als Angél ihm erklärte, wohin uns der Weg als Nächstes führen sollte, wurden seine Augen sehr groß – und das ganze Lager plötzlich still. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so ein betroffenes Schweigen erlebt. Auf Angéls Nachfrage hin begann der Älteste, heftig zu gestikulieren und zu reden. Ich habe natürlich kein Wort verstanden. Aber das
ganze Dorf schien seiner Meinung, denn alle nickten und murmelten. Niemand lachte oder sang mehr. Angél gefiel nicht, was er hörte, das konnte ich seinem Gesicht deutlich ansehen, aber natürlich widersprach er nicht. Selbst wir als Außenstehende begreifen intuitiv, dass der Älteste eine Respektperson ist, auf deren Rat man hören sollte. Und Angél, der doch zur Hälfte von einem Eingeborenenvolk abstammt, fügte sich erst recht in dieses ungeschriebene Gesetz. Erst später, als wir allein in unserer Hütte waren (was sehr bald war, denn das Fest wollte nach diesem Zwischenfall nicht mehr recht in Schwung kommen), erzählte er uns, was der Älteste gesagt hatte:
Wir sollten das Dorf unter keinen Umständen in Richtung Osten verlassen, wie wir es geplant hatten. Zwar läge unser nächstes Etappenziel tatsächlich knappe vier Tagesreisen entfernt. Aber der Wald zwischen hier und dort sei von bösen Geistern heimgesucht, die von leichtsinnigen Menschen Besitz ergriffen und sie in blutrünstige Monster verwandelten. Nur wenige seien von dort zurückgekehrt. Und die wenigen, die es geschafft hätten, seien ohne Verstand gewesen, so dass die Dorfbewohner sie erschlagen und verbrannt hatten, um sich vor ihnen zu schützen. Ich bin nicht abergläubisch. Aber ich gebe zu, mir lief es kalt den Rücken hinunter bei dieser Geschichte.
Wir berieten uns noch bis spät in die Nacht. Angél war sehr bedrückt. Natürlich glaubte er nicht an das, was der Älteste gesagt hatte. Auch er ist schließlich Wissenschaftler. Aber solche Legenden haben doch immer einen Ursprung, und deshalb sei Vorsicht geboten, meinte er. Andererseits sei es auch schwierig, einen anderen Weg zu nehmen, ohne weitaus mehr Zeit im Dschungel zu verbringen, als wir geplant hatten – und wir würden die Sicherheit verlieren, in absehbarer Zeit ein Dorf zu finden,
in dem wir unterkommen und uns neue Verpflegung besorgen könnten.
Trevor, der ja ein sehr rationaler Mensch ist, argumentierte energisch dagegen, eine andere Route zu suchen und tat die ganze Geschichte als Schwachsinn ab. Und Kelly, die vor ihrem Mann natürlich keine Schwäche zeigen will, stimmte ihm zu. Aber ich weiß, dass sie sich insgeheim fürchtet. Ich kenne sie lang genug.
George wiederum brennt nun erst recht darauf, herauszufinden, was es mit diesem Mythos auf sich hat. Und ich – Feigling, der ich bin – wage nicht, meine ängstlichen Bedenken laut auszusprechen. Zudem finde ich bei aller Faszination die Aussicht, vielleicht mehrere Wochen am Stück im Zelt leben zu müssen, keinesfalls verlockend.
Am Ende beschlossen wir also, aller Warnungen zum Trotz, bei unserer geplanten Route zu bleiben. Die Dorfbewohner zeigten sich angesichts dieser Entscheidung gleich viel weniger herzlich, und ich befürchte, auf dem Rückweg werden wir hier auch weitaus weniger willkommen sein. Wenn wir uns überhaupt noch einmal hierherwagen können, ohne Angst zu haben, verbrannt zu werden. Ich wünsche mir mittlerweile, wir hätten uns vielleicht doch anders entschieden. Aber nun ist es zu spät. Wir sind bereits wieder mitten im Urwald.
Und ich fürchte, heute werde ich zum ersten Mal Probleme haben, einzuschlafen.
23. Februar 2010
Ich habe Heimweh.
Ich gebe es nicht gern zu, aber vor mir selbst kann ich es nicht leugnen: Ich will nach Hause. Nach zwei weiteren Tagen im Urwald beginnt auch der schillerndste Vogel seine Faszination
zu verlieren, und man wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich einmal wieder trocken zu sein und in einem richtigen Bett zu schlafen. Die
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