Die Blutgraefin
bedauern. Als sie weitersprach, klang sie wieder versöhnlicher.
»Ich kann dich verstehen, Andrej. Ich weiß, ich hätte es nicht tun
sollen, aber das Mädchen hat mir so Leid getan. Ich hatte Angst, sie
würde sich etwas antun. Du hast ihre Arme gesehen?«
»Sie hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden«, sagte Andrej.
»Ja«, bestätigte Maria. »Heute Morgen, kurz nachdem du fortgeritten bist. Wenn ich nicht zufällig im letzten Moment hereingekommen wäre…« Sie hob die Schultern und überließ es seiner Fantasie,
sich auszumalen, was geschehen wäre.
»Ich weiß, ich hätte das nicht tun sollen«, wiederholte sie. »Aber
als ich sie gerade unten gesehen habe… ich hatte einfach Angst, dass
sie den Kummer nicht mehr erträgt und daran zerbricht. Also habe
ich ihr den Schmerz genommen. Sie wird ein paar Stunden schlafen,
und wenn sie erwacht, wird sie das Schlimmste vergessen haben.«
»Hat Blanche dir gezeigt, wie man das macht?«, fragte Andrej.
»Er hat mir alles gezeigt, was ich weiß«, antwortete Maria ernst.
»Und wie viel von deinem Schmerz hat er dir genommen?«, fragte
Andrej.
»Gar nichts«, erwiderte Maria traurig. »Ich habe es mir gewünscht.
Da war so viel, was ich vergessen wollte. Ich habe meinen Vater
sterben sehen. Ich habe meine ganze Familie verloren, jeden, den ich
kannte. Ich hatte dich verloren, Andrej.« Ihre Stimme wurde leiser,
bitterer. »Ich habe ihn angefleht, mir die Erinnerung an diesen
Schmerz zu nehmen, aber er hat es nicht getan.«
»Obwohl er es kann?«
»Man muss nicht alles tun, was man kann«, erwiderte Maria mit einem ebenso flüchtigen wie traurigen Lächeln. »Jeder Mensch hat das
Recht auf seine Erinnerungen. Auch auf seinen Schmerz.«
»Ist das eine Weisheit von Blanche?«, fragte er böse.
»Vielleicht ist es einfach nur die Wahrheit«, antwortete Maria. Sie
schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Ich will mich nicht mit dir
streiten, Andrej. Schon gar nicht über Blanche. Ich weiß, dass du
eifersüchtig auf ihn bist, aber glaub mir, du hast nicht den mindesten
Grund dazu.«
»So?«, fragte Andrej verdrießlich. »Bin ich das?«
»Das will ich doch hoffen«, sagte Maria. »Wenn nicht, wäre ich
wirklich beleidigt.«
Gegen seinen Willen musste Andrej lachen. Maria trat auf ihn zu,
schlang die Arme um seinen Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um sein Gesicht zu erreichen.
»Was fangen wir jetzt mit diesem Tag an?«, fragte sie, während sie
sacht die Nase an seinem Kinn rieb. »Elenja wird bis morgen früh
durchschlafen, und ich fürchte, ich bin eine miserable Köchin.«
»Obwohl du Zeit genug hattest, um es zu lernen?«, fragte Andrej,
während seine Hände sanft über ihre Schultern und ihren schmalen
Rücken hinabglitten.
»Ich hatte Wichtigeres zu lernen«, antwortete Maria, während ihre
Lippen nach denen Andrejs suchten und sie dann so sanft berührten,
dass er vor Lust aufstöhnte. »Soll ich dir zeigen, was?«
Nicht nur Elenja schlief bis zum nächsten Morgen durch. Als Andrej erwachte, drang bereits graues Tageslicht durch die Ritzen der
Bretter, mit denen das Fenster vernagelt war. Er fand sich wieder
frierend in seinen Mantel eingerollt auf dem Boden vor dem Kamin
liegend. Das Feuer war erloschen. Ein letzter, dunkelroter Funke
glomm in der grauen Asche, zu der die Holzscheite zerfallen waren,
und erlosch gerade in dem Moment, in dem Andrej die Augen öffnete. Die Kälte war längst durch seinen Mantel, seine Haut und sein
Fleisch gekrochen und hatte sich als grimmiger Schmerz in seinen
Knochen und Gelenken eingenistet.
Es war nicht nur die Kälte, die Andrej zu schaffen machte. Er fühlte
sich so schwach und kraftlos wie ein neugeborenes Kind - oder wie
der uralte Mann, der er im Grunde war. Obwohl ihm das hereinströmende Licht bewies, dass er mindestens zwölf Stunden geschlafen
hatte, war er todmüde. Seine Glieder fühlten sich an wie Blei, doch
es war nicht die Schwere, die man nach einem langen Tag harter Arbeit empfindet, sondern ein sonderbar… moderiges Gefühl. Seine
Lider waren so schwer, dass es ihm nur mit Mühe gelang, die Augen
offen zu halten.
Andrej widerstand der Versuchung, sich stärker in seinen Mantel zu
wickeln und darauf zu warten, dass er sich besser fühlte. Er ahnte,
dass er wieder einschlafen würde, und befürchtete, dann zu erfrieren.
Es war so kalt, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn er eine dünne
Schicht aus Eis auf den Möbeln und dem Boden entdeckt
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