Die Blutgraefin
ist er den Weg nur schon sehr
viel weiter gegangen.«
Dagegen konnte Andrej nichts einwenden. Er selbst hatte in den zurückliegenden Tagen mehr als einmal ganz ähnliche Überlegungen
angestellt und war zu dem gleichen Schluss gekommen. Aber der
Gedanke erfüllte ihn mit Abscheu. Blanche war kein Mensch mehr.
Er hatte seine Menschlichkeit schon vor langer Zeit verloren und war
zu… etwas anderem geworden, das nur noch wie ein Mensch aussah,
aber keine Gefühle und keine Seele hatte. Er musste wieder an das
denken, was er tief in Abu Dun gespürt hatte; etwas… Fauliges, etwas so durch und durch Böses und Falsches, dass sich sein Herz
schon bei der bloßen Erinnerung daran zusammenzog. War es das,
was Maria meinte? War es das, wozu sie unweigerlich am Ende,
nach einigen Hundert, vielleicht nach Tausenden von Jahren, werden
mussten, wenn sie den Weg zu Ende gingen, den der Weißhaarige
beschritten hatte? Andrej wollte das nicht wahrhaben. Wenn es so
war, dachte er, dann war Abu Dun vielleicht sogar der Glücklichere
von ihnen beiden.
»Weißt du, warum wir nach Wien gegangen sind?«
»Nein«, antwortete Maria.
»Wir waren auf der Suche nach einem Mann«, sagte Andrej. »Einem Medicus. Wir hatten gehört, dass er einiges über…« Er suchte
nach Worten.
»Vampyre?«, half ihm Maria aus. »Warum sprichst du das Wort
nicht aus? Wir sind allein. Niemand hört uns zu.«
»Vampyre«, bestätigte Andrej. Ihm kam das Wort nur schwer über
die Lippen. »Es hieß, er hätte viel über uns herausgefunden.«
»Und?«, fragte Maria. »Habt ihr ihn gefunden?«
Andrej nickte und schüttelte zugleich den Kopf. »Ja. Aber es war
zu spät. Er ist gestorben, bevor er uns alles verraten konnte, was er
wusste.«
»Vielleicht nichts«, sagte Maria. »Ich kenne diesen Breiteneck
nicht, aber ich bin Männern wie ihm oft genug begegnet, glaub mir.
Sie wissen gar nichts.«
Andrej sah sie stirnrunzelnd an. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrer Gegenwart den Namen Breiteneck erwähnt zu haben.
»Sie forschen und sitzen in ihren Alchimistenstuben und rühren
Pulver und Zaubertränke an. Sie glauben, den Stein der Weisen gefunden zu haben, wenn sie auch nur das kleinste der unzähligen Rätsel lösen, die die Natur bereithält. Sie begreifen nicht, dass sie für
jeden Stein, den sie umdrehen, um einen Blick darunter zu werfen,
tausend andere missachten. Hat er dir erzählt, dass es eine Krankheit
ist?«
Andrej sah sie überrascht an. Das kam dem nahe, was der Medicus
ihnen erklärt hatte.
Maria beantwortete ihre eigene Frage mit einem abfälligen Kopfnicken. »Ja, das ist es, was sie alle glauben. Es ist so bequem, weißt
du? Nur eine Krankheit…!« Sie klang aufgebracht. »Eine Laune der
Natur. Etwas, das nicht sein sollte und das man bekämpfen muss. Es
fällt ihnen leichter, das zu glauben, statt sich der Frage zu stellen, ob
sie vielleicht doch nicht die Krönung von Gottes Schöpfung sind.«
»Und wenn er Recht hatte?«, fragte Andrej. Maria wollte auffahren,
doch er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich
bin noch nicht so alt, dass ich alles vergessen hätte. Ich hatte einen
Vater, der mich gezeugt hat, und eine Mutter, die mich zur Welt gebracht hat. Genau wie du. Irgendwann einmal waren wir ganz normale, sterbliche Menschen.«
»Und dann ist etwas geschehen, von dem weder du noch ich genau
wissen, was es war«, sagte Maria. »Willst du es wirklich wissen? Ich
für meinen Teil nicht.« Auf diese Frage hatte er keine Antwort. Noch
vor ein paar Tagen hätte er mit einem klaren, überzeugenden Ja geantwortet, aber da hatte er Blanche noch nicht gekannt.
»Lass uns morgen weiter darüber reden«, lenkte Maria ein. Sie
stand auf. »Ich muss noch einige Vorbereitungen für unsere Reise
treffen.«
»Ich werde dir helfen«, sagte Andrej und wollte sich ebenfalls erheben, aber Maria schüttelte den Kopf.
»Ich muss nur einige persönliche Dinge zusammensuchen«, sagte
sie. »Eine Auswahl treffen. Wir reisen mit kleinem Gepäck. Du würdest mich dabei nur stören.«
»Und was soll ich tun?«, fragte Andrej.
»Schlaf ein!«, befahl Maria.
Andrej schlief ein.
Er erwachte zitternd vor Kälte. Es war tief in der Nacht. Der Kamin
brannte noch, aber wieder schienen die Flammen keine Hitze zu verströmen, sondern das bisschen Wärme, das noch in seinem Körper
war, aus ihm herauszusaugen. Selbst das Licht, das sie verbreiteten,
wirkte kalt.
Andrej wickelte sich zitternd aus dem Mantel,
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