Die Blutgraefin
er
dahockte und vergeblich zu begreifen versuchte, was er sah und spürte, ließ sich Maria auf der anderen Seite ebenfalls auf die Knie sinken, streckte die Hand aus und legte die gespreizten Finger ihrer
Linken auf Stirn und Augen des Mädchens. Andrej konnte nicht sagen, was dort geschah, aber der winzige Funke in Elenja glomm
plötzlich auf und wurde wieder zu einer schwach, aber ruhig und
gleichmäßig brennenden Flamme.
»Was… hast du getan?«, flüsterte er ungläubig.
Maria richtete sich mit einem erschöpft klingenden Seufzer auf. Ihre Hand hinterließ einen roten Abdruck auf Elenjas Gesicht, mit ihrem eigenen, nun allmählich eintrocknenden Blut gemalt. Ein leises
Stöhnen kam über Elenjas Lippen.
»Ich glaube, sie schafft es«, flüsterte Maria.
»Sie…« Andrej schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber was… was
meinst du?«
»Dass du sie beinahe umgebracht hättest, du Dummkopf«, antwortete Maria. Es klang fast, als ob sie nicht ihm, sondern sich selbst die
Schuld dafür gäbe. Sie ließ sich wieder auf die Knie fallen und stützte die Hände auf die Oberschenkel. Ihre Schultern sackten nach vorn.
Andrej konnte sehen, wie alle Kraft aus ihrem Körper wich.
»Was geht hier vor?«, fragte Andrej.
»Das ist nicht so einfach zu erklären«, antwortete sie zögernd, als
hätte seine Frage Zeit gebraucht, um bis in ihr Bewusstsein vorzudringen. Sie starrte an ihm vorbei ins Leere, während sie verzweifelt
nach den richtigen Worten suchte. »Es ist meine Schuld«, flüsterte
sie. »Ich hätte es dir sagen sollen. Aber es war… der einzige Weg.«
Ihre Stimme war kaum noch zu hören; ein bloßes Flüstern, in dem
eine so tiefe Bitterkeit und Trauer lag, dass Andrej den Schmerz, den
sie spürte, nachempfinden konnte. Mehr noch: In ihm stieg unvermittelt das furchtbare Gefühl auf, ihr Unrecht getan zu haben. Vielleicht
war alles ganz anders, als es den Anschein gehabt hatte.
»War?«, fragte Andrej mit leiser, zitternder Stimme.
»Du hast mich nie gefragt, wie ich so alt geworden bin. Wolltest du
denn nicht wissen, wie es mir gelungen ist, die Zeit zu besiegen?«
Entsetzt starrte Andrej Maria, dann das reglose Mädchen zwischen
ihnen und schließlich wieder Maria an. Dann fragte er, mit einer
Stimme, die schrill und krächzend und in seinen eigenen Ohren wie
die eines Fremden klang: »So? Du… du hast dein Leben verlängert,
indem du es anderen gestohlen hast?«
»Nicht gestohlen!«, verteidigte sich Maria. Sie klang erschrocken.
»Es ist nicht so, wie du glaubst!«
Andrej hörte ihre Worte gar nicht. Er begriff endlich. Die Mischung
aus Scham, Furcht und Verzweiflung, die er eben noch verspürt hatte, machte einem Gefühl von Bitterkeit Platz. »Also ist alles wahr«,
flüsterte er. »Ulric hat die Wahrheit gesagt. Du hast diese Mädchen
getötet.«
»Nein!« Maria schrie fast. »So verstehe doch! Ich habe niemanden
getötet! Ich würde niemals ein anderes Leben nehmen, um meines zu
verlängern! Das musst du mir glauben!«
Wie konnte er das? Er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Wäre er
nur einen Moment später gekommen, dann wäre auch Elenja tot gewesen. Wie all die anderen.
»Bitte, lüg mich nicht an«, sagte er. »Ich werde dir nichts antun,
keine Angst. Ich möchte einfach nur die Wahrheit wissen.«
»Aber es ist die Wahrheit!«, verteidigte sich Maria verzweifelt. »So
versteh doch! Ich habe niemandem etwas gestohlen! Ich habe nur
etwas von ihrer Lebenskraft genommen, aber nicht so viel, dass es
ihnen schadet oder sie umbringt! Sieh sie dir doch an! Sie ist am Leben. Sie wird wieder ganz gesund, ohne Schaden zu nehmen, und sie
wird sich an nichts erinnern.«
»Und was du von ihr… genommen hast, wird ihr nicht fehlen?«,
fragte Andrej spöttisch.
Maria schüttelte heftig den Kopf. »Du ahnst ja nicht, wie gewaltig
der Vorrat an Kraft ist, den wir alle in uns tragen. Was ich ihr genommen habe, ist nicht mehr, als wenn ich einen Becher Wasser aus
dem Ozean geschöpft hätte. Sie wird es gar nicht merken. Sie wird
schlafen und alles vergessen haben, wenn sie wieder erwacht.
Glaubst du, ich hätte mir all diese Jahre des Lebens und der Jugend
zusammengestohlen, indem ich andere Leben vernichte? Denkst du
wirklich, ich könnte so etwas tun?«
Andrej wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Er wusste nicht
einmal mehr, was er glauben wollte. Alles drehte sich. Seine Gedanken überschlugen sich und kreisten zugleich ständig um dieselben
Fragen. Er blickte auf Elenja
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