Die Blutgraefin
sie nicht da ist«, vermutete Andrej.
»Sie wäre hier, wenn das Wetter nicht umgeschlagen wäre«, antwortete Lorenz. »Gräfin Berthold hat ihr ein Empfehlungsschreiben
gegeben, das ihr eine Anstellung im Nachbarort ermöglicht hat - ebenso, wie sie es für Lisa und etliche andere aus dem Ort und von
den umliegenden Höfen getan hat. Meine Nichte ist ein gottesfürchtiges Kind und eine gute Christin, die weiß, was sie ihren Eltern und
Gott dem Herren schuldig ist. Sie arbeitet eine Tagesreise weit von
hier entfernt, und doch nimmt sie den langen, beschwerlichen Weg
Woche für Woche in Kauf, um der Sonntagsmesse in der Kirche beizuwohnen, in der sie getauft wurde, und einige Stunden mit ihrer
Familie zu verbringen. Wenn Ihr eine Woche hier bleibt, werdet Ihr
sie kennen lernen.«
»Ebenso wie all die anderen, die in Gräfin Bertholds Diensten standen?«, erkundigte sich Andrej.
»Nicht alle«, antwortete Lorenz. Sein Blick wanderte kurz suchend
durch den Raum. »Janosch, wo ist deine Tochter? Ich habe sie während der Messe vermisst.«
Ein bärtiger Mann an einem der Nachbartische sah auf und antwortete: »Sie pflegt ihre Mutter. Die ist krank, wie du wohl weißt.«
Lorenz nickte verstehend. »Sie soll zwei Ave Maria und einen Rosenkranz beten, und richte ihr aus, dass Gott auch in der Kirche ihres
Herzens wohnt. Aber sobald deine Frau wieder gesund ist«, fügte er
mit gespielter Strenge hinzu, »will ich sie beide auch wieder in meiner Kirche sehen.«
»Selbstverständlich, Vater«, versicherte der andere, ohne dass seiner Stimme allzu große Ehrfurcht anzumerken gewesen wäre.
Lorenz wandte sich wieder an Andrej. »Ihr habt mit Ulric gesprochen«, stellte er fest.
Andrej blickte Lorenz fragend an. »Wer genau ist dieser Ulric?«
»Es steht mir nicht zu, über meine Mitmenschen zu urteilen«, antwortete Lorenz. »Aber so mancher würde sagen, dass Ulric und seine
Söhne schlechte Menschen sind.«
»Und was zeichnet sie - in den Augen anderer - als schlechte Men
schen aus?«, fragte Andrej lächelnd.
Lorenz lächelte ebenfalls, aber seine Augen blieben von diesem Lä
cheln unberührt. Andrej ermahnte sich innerlich zur Vorsicht. Dieser
Mann war nicht annähernd so harmlos, wie er sich gab.
Der Geistliche setzte zu einer Antwort an - in diesem Moment wurde die Tür so heftig aufgestoßen, dass sie gegen die Wand krachte.
Eingehüllt in einen Mantel tobender Schneeflocken stolperte eine
dick vermummte Gestalt herein.
»Tot!«, keuchte der Mann. Halb blind stolperte er weiter in den
Raum hinein, prallte gegen einen der Tische und riss einen der Männer, die daran saßen, zu Boden. Er merkte es nicht einmal, sondern
wankte weiter und schrie immer wieder: »Tot! Sie sind tot! Sie sind
alle tot!«
Andrej atmete eiskalte Luft ein, die wie scharfe Messerklingen in
seine Kehle schnitt.
Den atemlos hervorgestoßenen Worten des Mannes war ein Moment erschrockener Lähmung gefolgt. Dann brach in der Gaststube
ein heilloses Durcheinander aus, in dem alle Männer kopflos durch
den Raum rannten. Jeder versuchte zur Tür und nach draußen zu gelangen. Das Ergebnis war ein wüstes Gedrängel und Geschubse, bei
dem wie durch ein Wunder niemand verletzt wurde.
Abu Dun, der Geistliche und Andrej waren die Letzten, die das
Gasthaus verließen und in den heulenden Schneesturm hinaustraten.
Wohin sie auch blickten, tobte ein weißes Chaos, in dem es keine
Himmelsrichtungen und kein oben und unten zu geben schien.
Direkt vor dem Gasthaus stand ein flacher, zweirädriger Karren, auf
dessen Ladefläche sich dunklere Schatten und Umrisse unter einer
dicken Schneedecke abzeichneten. Andrej hielt sich mit gesenktem
Kopf hinter Abu Dun, der ihm mit seinen breiten Schultern nicht nur
Schutz vor dem eisigen Wind gewährte, sondern auch eine Gasse
durch die Menschentraube pflügte, die den Wagen umlagerte. Als die
Männer den klumpigen Schnee mit bloßen Händen weggeschaufelt
hatten, kamen darunter menschliche Körperteile zum Vorschein, gebrochene Gliedmaßen und zerfetzte Leiber, erstarrte Gesichter und
erloschene Augen, in die sich noch im Moment des Todes ein Ausdruck des Entsetzens eingegraben hatte: Niklas und seine Familie.
Andrej fing einen warnenden Blick aus Abu Duns Augen auf, bevor
ihm eine verräterische Bemerkung entschlüpfen konnte, und
schwieg, auch wenn er nicht verstand, warum.
»Das ist Niklas«, rief Pater Lorenz aus. Sein Atem dampfte in der
Kälte.
»Und seine beiden Söhne«, fügte der Mann hinzu,
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