Die Blutgraefin
einmal«, antwortete er
schließlich. Seine Erschütterung war ihm deutlich anzumerken. »Eine ganze Familie!«
Lorenz beugte sich wieder über den Toten. Andrej konnte nicht erkennen, was er tat, aber der Geistliche schien etwas ganz Bestimmtes
zu suchen.
Als er sich wieder aufrichtete und vom Tisch zurücktrat, lag auf Pater Lorenz’ Gesicht ein Ausdruck von Grauen und grimmiger Gewissheit. Er wandte sich um und ließ sich neben einem der anderen
Toten in die Hocke sinken. Die Bewegungen, mit denen er Schultern
und Hals des Toten abtastete, verfolgten deutlich ein bestimmtes
Ziel.
»Er auch?«, fragte einer der Männer.
Lorenz nickte stumm und wandte sich dem nächsten Leichnam zu.
Während er ihn untersuchte, trat Andrej zögernd an den Tisch heran
und beugte sich neugierig vor.
Der Anblick traf ihn wie ein Schlag.
Vielleicht hatte er es vor zwei Tagen im Wald nicht gesehen, weil
die Leiche halb im Schnee vergraben gewesen war. Vielleicht war er
vom Anblick der anderen Verletzungen und Verstümmelungen zu
schockiert gewesen. Aber nun war es unübersehbar, obwohl die
Wunden selbst unscheinbar waren und sich im Vergleich zu allem
anderen, was man dem Mann angetan hatte, geradezu harmlos ausnahmen.
Es waren zwei winzige, punktförmige Einstiche an der linken Seite
des Halses, unmittelbar über der Halsschlagader.
»Dieser auch«, sagte Lorenz, nachdem er den dritten Toten untersucht und sich aufgerichtet hatte. Er verzichtete darauf, die beiden
anderen Leichen zu untersuchen. Andrej spürte, dass er bereits wusste, was er finden würde, und sich den Anblick ersparen wollte. Stattdessen trat Lorenz wieder an den Tisch heran, streckte die Hand nach
Niklas’ Gesicht aus, zog aber den Arm wieder zurück, ohne den
Leichnam berührt zu haben.
»Was ist das?«, fragte Abu Dun. »Ein Biss?«
Andrej fuhr zusammen. Er fragte sich, ob der Nubier den Verstand
verloren hatte.
»Man könnte es fast meinen«, sagte Lorenz, ohne die Augen von
den erstarrten Zügen des toten Bauern zu wenden. »Aber welches
Tier wäre zu so etwas im Stande?«
»Ein Vampyr?«, schlug Abu Dun vor. Kein Zweifel, dachte Andrej.
Er hatte den Verstand verloren.
Für einen Moment wurde es ganz still in der Gaststube. Andrej
stockte der Atem. Dann drehte sich Lorenz betont langsam zu Abu
Dun herum und maß ihn mit einem Blick, der selbst das Feuer im
Kamin zum Erstarren gebracht hätte. »Mir scheint, ich habe mich in
Euch getäuscht, Muselman«, sagte er. Seine Stimme war so spröde
und kalt wie Glas. »Ich weiß nicht, wie man dort, wo Ihr herkommt,
mit dem Tod umgeht. Hier bei uns respektiert man ihn und treibt
keine Scherze damit.«
»Wer sagt Euch, dass ich einen Scherz machen wollte?«, gab Abu
Dun zurück.
Bevor Lorenz antworten konnte, trat Andrej mit einem raschen
Schritt zwischen ihn und den Nubier. »Was Abu Dun meinte«, erklärte er hastig, »ist, dass wir kein Tier kennen, das solche Bisswunden hinterlässt.«
»So wenig wie wir«, bestätigte Lorenz kühl. »Umso weniger will
ich dummes Gerede von Vampyren oder Dämonen und anderen Unsinn hören! Diese Männer sind nicht die Ersten, die auf diese Weise
zu Tode kommen, und die Menschen hier sind verängstigt genug.
Wir brauchen wahrlich keine Märchenerzähler aus dem Morgenland,
die hierher kommen und sich über uns lustig machen.«
»Abu Dun hat es nicht so gemeint«, wiederholte Andrej. »Es tut
mir Leid.«
Lorenz wirkte keineswegs besänftigt. Andrej spürte, dass ihn alle
im Raum anstarrten, aber er war froh, wenigstens die Aufmerksamkeit von Abu Dun abgelenkt zu haben.
Um das immer unbehaglicher werdende Schweigen zu beenden,
beugte er sich vor und tat so, als untersuche er die beiden kleinen
Bisswunden am Hals des Toten. Er wusste nur zu gut, woher sie
stammten. »Und Ihr sagt, es sind nicht die ersten…Opfer, die ihr so
findet?«
»Nein«, antwortete Lorenz nach einem unbehaglichen Räuspern.
»Vorher gab es bereits drei andere. Und es sind eine ganze Reihe
Tiere auf dieselbe Art gerissen worden. Wir wissen nicht, welches
Raubtier seine Opfer auf diese Weise schlägt.« Er schwieg kurz und
fuhr zögernd fort: »Wenn es ein Raubtier ist, so hinterlässt es jedenfalls keine Spuren.«
Vielleicht, weil es Flügel hat, dachte Andrej.
Einer der anderen Männer meldete sich zu Wort. »Mein Sohn ist im
letzten Sommer von einer Spinne gebissen worden«, sagte er. »Die
Wunden sahen genauso aus… aber sie waren viel kleiner.«
Andrej war zusammengezuckt,
Weitere Kostenlose Bücher