Die Blutgraefin
fuhr Abu Dun fort.
Andrej fiel auf, dass der Nubier Blanche zum ersten Mal bei seinem
Namen nannte. Er war jetzt vollends verwirrt.
»Und?«, fragte Abu Dun. »War sie es?«
»Sie ist es«, antwortete Andrej.
Abu Dun grinste und kaute unermüdlich weiter. Nur in seinen
dunklen Augen lag mit einem Mal eine Ernsthaftigkeit, die Andrej
allzu lange vermisst hatte. Vielleicht war es Sorge. »Bist du ganz
sicher?«, fragte er. »Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit, Andrej.
Selbst für Wesen wie uns.«
»Was soll das heißen?«, schnappte Andrej.
Abu Dun blieb ruhig. »Ich versuche mich nur in deine Lage zu versetzen, alter Freund«, sagte er. »Weißt du eigentlich, dass seit einem
halben Jahrhundert kaum ein Tag vergangen ist, an dem du mir nicht
mindestens einmal von ihr erzählt hast?«
»Nein!«, antwortete Andrej. »Das weiß ich nicht.« Es entsprach tatsächlich nicht die Wahrheit. Zu seiner eigenen Überraschung musste
er sich eingestehen, dass er angefangen hatte, Maria zu vergessen.
Sie wäre sicherlich nie vollständig aus seinem Herzen verschwunden,
aber sie beherrschte schon längst nicht mehr sein ganzes Denken und
Fühlen. Manchmal vergingen Wochen, sogar Monate, in denen er ihr
Bild nicht vor sich sah. In den letzten Jahren war es ihm immer
schwerer gefallen, sich an ihr Gesicht zu erinnern.
»Na ja, vielleicht war es auch nur an jedem zweiten Tag«, sagte
Abu Dun achselzuckend. »Ich frage mich nur, ob du deinen Gefühlen
trauen kannst.«
»Sie ist es«, wiederholte Andrej gereizt. »Warum kommst du nicht
einfach mit zum Schloss und überzeugst dich selbst?«
»Das werde ich wohl tun müssen«, erwiderte Abu Dun. Der Ernst
in seinem Blick erlosch, und er beugte sich wieder über seinen Teller
mit Abfällen, den er schon zur Hälfte geleert hatte. »Aber erst später.«
»Nachdem du deinen Hunger gestillt hast?«, fragte Andrej spöttisch.
Abu Dun hob die Schultern. »Essen hält Leib und Seele zusammen«, sagte er. »Du solltest dir auch etwas bestellen. Liebe macht
hungrig, habe ich mir sagen lassen.«
Andrej ignorierte die Spitze und fragte: »Wo bist du eigentlich gestern gewesen?«
Wieder antwortete Abu Dun mit vollem Mund und daher nahezu
unverständlich. »Hier. Wenn ich schon unser sauer verdientes Geld
für diese Absteige ausgebe, dann will ich wenigstens etwas davon
haben.« Er hörte einen Moment auf zu kauen, hob den Kopf und sah
Andrej direkt in die Augen. »Aber vorher war ich bei unseren Auftraggebern.«
»Ulric?«
Abu Dun nickte. »Ich glaube, die guten Leute hier im Dorf haben
Recht. Es sind Räuber. Ich habe mich ein wenig in ihrem Haus umgesehen.«
»Und trotzdem hältst du an eurer Vereinbarung fest?«, erkundigte
sich Andrej.
Zwischen den buschigen Augenbrauen des Nubiers entstand eine
steile, missbilligende Falte. »Soll ich sie vielleicht erschlagen, nur,
weil sie deinen neuen Freunden misstrauen?«
»Sie hat einen Namen«, tadelte Andrej.
»Meinetwegen«, sagte Abu Dun. »Interessiert dich gar nicht, was
ich herausgefunden habe?«
Andrej nickte widerwillig, woraufhin sich Abu Duns Stirnrunzeln
vertiefte. »Niklas und seine Leute waren tatsächlich nicht die Ersten,
die auf so grausame Weise zu Tode gekommen sind«, sagte Abu
Dun. »Es gab eine ganze Reihe von Todesfällen seit Gräfin…«, er
verbesserte sich, »Maria und ihr Freund hier im Tal aufgetaucht sind.
Von den verschwundenen Mädchen ganz zu schweigen.«
»Du weißt, dass das Unsinn ist«, antwortete Andrej.
»Wie kannst du da so sicher sein?«, fragte Abu Dun.
»Immerhin haben wir mit einem dieser Mädchen gesprochen, die
angeblich verschwunden sind«, gab Andrej zu bedenken.
»Mit einem«, bestätigte Abu Dun. »Von den anderen haben wir nur
gehört.«
»Ich verstehe«, sagte Andrej spitz. »Und Pater Lorenz hat also gelogen, als er von seiner Nichte erzählte?«
Abu Dun winkte ab. »Zwei von sechs«, sagte er. »Fehlen immer
noch vier.«
»Elenja nicht mitgerechnet«, fügte Andrej hinzu. »Nur, falls du
vergessen haben solltest, warum ich überhaupt zum Schloss geritten
bin.«
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Abu Dun. »Und? Hast du sie
gefunden, oder warst du zu sehr damit beschäftigt, mit Maria in alten
Erinnerungen zu schwelgen?«
Andrej überging die Anspielung. »Sie lebt und erfreut sich bester
Gesundheit«, sagte er. »Wenigstens war das noch so, als ich aufgebrochen bin.«
Wieder öffnete sich die Tür. Abu Dun, der schon zu einer Entgegnung angesetzt hatte, klappte
Weitere Kostenlose Bücher