Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutige Sonne - 14

Die Blutige Sonne - 14

Titel: Die Blutige Sonne - 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
Vom Netzwerk:
Andeutung eines Lächelns. „Du darfst also nicht glauben, du seiest ein Geist, mein barbarischer Geliebter. Ich habe nur den Charakter der Luft um dich herum geändert – genauer kann ich es nicht ausdrücken. Ich meine aber, es wird einige Zeit anhalten, wenn du ungesehen ins Waisenhaus kommen willst.“
    Sie blieb im Hotelzimmer, während er leise und unsichtbar die Korridore entlangging. Es war schon ein eigenartiges, traumhaft anmutendes Gefühl, als er an den Menschen in der Halle vorüberging, ohne gesehen zu werden. Kein Wunder, daß die Com’yn nahezu unüberwindlich waren…
    Aber zu welchem Preis! Mädchen wie Elorie gaben dafür ihr Leben…
    Das Waisenhaus sah aus wie damals, als er es – war das wirklich erst zwei Monate her? – zum letztenmal gesehen hatte. Ein paar Jungen hockten auf dem Boden um eine bunte Blumenschale; ein größerer Junge mit einem Abzeichen beaufsichtigte sie. Geisterhaft leise stieg Kerwin die weißen Steintreppen hinauf. Was sollte er zuerst tun? Ungesehen in das Büro huschen und in den Karteien nachsehen? Schnell gab er diesen Gedanken auf, denn selbst wenn man ihn nicht sah, konnte er es doch nicht wagen, die Unterlagen zu durchwühlen und die Knöpfe an der Datenmaschine zu drücken, denn die Geräusche wären zu auffällig gewesen. Damit würde er nur die Leute im Büro zu Tode erschrecken, und wenn sie dann noch sahen, wie sich Schubladen und Papiere von selbst bewegten, würden sie früher oder später diesen geisterhaften Erscheinungen auf den Grund gehen.
    Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. Im Schlafsaal des dritten Stockes, in dem er mit sechs anderen jungen geschlafen hatte, waren seine Anfangsbuchstaben in den Fensterrahmen geschnitzt. Vielleicht war das Fenster inzwischen repariert oder ausgewechselt worden; dann konnte er nichts beweisen. Aber wenn es noch da war…
    Es könnte sein. Der Schlafsaal war alt, und andere Jungen hatten dasselbe getan wie er. Die Darkovaner Pflegerinnen und die Lehrer hatten ihnen ziemlich viel Freiheit gelassen. Damals hatte der Schlafsaal schon Spuren langer Benutzung gezeigt, und die saubergehaltenen Wände deuteten auf kindliche Experimente mit Werkzeugen.
    Er rannte die Treppe hinauf und kam schwer atmend oben an, zögerte ein wenig und öffnete die Tür, die er für die richtige hielt.
    Es war ruhig in dem sonnendurch fluteten Raum. Acht kleine, ordentliche Betten standen in einer Art Zellen, und im freien Raum dazwischen waren auf kleinen Teppichen Spielzeuggruppen aufgebaut – Männer und Raumschiffe. Vorsichtig ging er um das Spielzeug herum und seufzte, als er den kleinen, weißen Wolkenkratzer sah, der den Mittelpunkt der Gruppe bildete. Die Kinder hatten den Raumhafen aufgebaut, der ihr ganzes Denken und Leben erfülle.
    Er durfte keine Zeit verlieren und trat zum Fenster, ließ seine Finger über die Flächen gleiten und entdeckte im glatten Holz einige Unebenheiten, Kreuze, Herzen und Zahlen eines Schreibspieles. Sie waren damals etwa in Augenhöhe gewesen…
    Plötzlich fiel ihm ein, daß er ja am falschen Platz suchte. In diesem Schlafsaal hatte er gelebt, als er ein zwölfjähriges Kind war, und damals war er ja viel kleiner gewesen.
    Er bückte sich und suchte erst die eine Seite, dann die andere ab, entdeckte Flecke, alte Kratzer und unbeholfen geschnitzte Wappen
    – und endlich am Rand des Rahmens in den kantigen Buchstaben des Universalalphabets, das den Waisenkindern beigebracht wurde, die ersten Ergebnisse seiner kindlichen Arbeit mit dem Taschenmesser: JAK JR.
    Er zitterte vor Erregung, und seine Fingernägel gruben sich tief in die Handballen. Man hatte ihn also angelogen. Sich selbst gegenüber hatte er niemals zugegeben, daß ihn Zweifel quälten, doch als er nun die tiefen Rillen im Fensterrahmen unter seinen Fingern spürte, wurde ihm bewußt, daß sich der Zweifel tief in sein Innerstes gefressen hatte. Aber jetzt wußte er bestimmt: man hatte ihn angelogen.
    „Sie haben gelogen, gelogen!“ sagte er laut und ging auf die Tür zu.
    „Wer hat gelogen?“ fragte eine ruhige Stimme. „Und weshalb?“ Kerwin sah einen schlanken grauhaarigen Mann unter der Tür stehen und wußte nun, daß Elories Zauber aufgehört hatte, zu wirken. Man hatte ihn gesehen, gehört – und gefunden. Was nun?
    [14]
    Der Mann sah Jeff Kerwin aus intelligenten und freundlichen Augen an.
    „Besuche in den Schlafsälen sind nicht gestattet“, erklärte er. „Wenn Sie eines der Kinder besuchen wollen, dann können Sie es

Weitere Kostenlose Bücher