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Die blutige Sonne

Die blutige Sonne

Titel: Die blutige Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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PERSON
    Sie nahm die Karte aus Kerwins plötzlich schlaffen Fingerspitzen.
    »Sie können eine Maschine nicht der Lüge bezichtigen«, erklärte sie. »Und jetzt muß ich Sie bitten zu gehen.« Ihr Ton sagte deutlicher als die Worte, daß sie, sollte er es nicht tun, jemanden rufen würde, der ihn hinauswarf.
    Kerwin klammerte sich verzweifelt an die Tischkante. Ihm war, als sei er in ein kaltes, wirbelndes Nichts geschleudert worden. Er fragte: »Wie kann ich mich denn irren? Gibt es noch ein Raumfahrer-Waisenhaus auf Darkover? Ich habe hier gelebt, sage ich Ihnen …«
    Sie sah ihn lange an, und endlich verdrängte eine Art von Mitleid ihren Zorn. »Nein, Mr. Kerwin«, antwortete sie sanft. »Warum gehen Sie nicht zurück ins Hauptquartier und melden sich bei Sektion Acht? Wenn ein – ein Fehler vorliegt, kann man Ihnen dort helfen.«
    Sektion Acht, Abteilung für Medizin und Psychologie. Kerwin schluckte schwer und ging, ohne weiter zu protestieren. Das bedeutete, sie hielt ihn für geistesgestört, sie glaubte, er brauche psychiatrische Behandlung. Er machte ihr keinen Vorwurf daraus. Nach dem, was er eben gehört hatte, war er geneigt, ihr beizupflichten. Er stolperte in die kalte Luft hinaus, seine Füße waren wie betäubt, sein Kopf schwamm.
    Sie lügen, lügen. Irgendwer lügt. Die Frau hatte gelogen, und er wußte es; er spürte, daß sie gelogen hatte …
    Nein, so dachte jeder Paranoiker: Irgendwer lügt, sie alle lügen, es besteht ein Komplott gegen mich … Irgendwelche geheimnisvollen und nicht zu packenden Sie hatten sich gegen ihn verschworen.
    Aber wie konnte er sich geirrt haben? Verdammt noch mal, dachte er, als er die Stufen hinunterstieg, ich habe da drüben Ball gespielt, Tretball und »Äffchen«, als ich klein war, richtige Spiele, als ich größer wurde. Er sah zu den Fenstern seines alten Schlafsaals hoch. Er war oft genug nach irgendeiner Eskapade hineingeklettert, und die günstigerweise niedrigen Äste jenes Baums waren ihm dabei behilflich gewesen. Am liebsten wäre er jetzt wieder in den Schlafsaal geklettert, um nachzusehen, ob seine Anfangsbuchstaben noch da waren, die er in den Fensterrahmen eingeschnitten hatte. Aber er verwarf den Einfall. Bei dem Pech, das er hatte, würde man ihn schnappen und für einen Kinderbelästiger halten. Er drehte sich um und starrte wieder auf die weißen Mauern des Gebäudes, in dem er seine Kindheit verbracht hatte … Hatte er das?
    Kerwin preßte die Hände an die Schläfen und zwang versunkene Erinnerungen an die Oberfläche. Er wußte noch so vieles. Alle seine bewußten Erinnerungen drehten sich um das Waisenhaus, um das Grundstück, auf dem er gerade stand, auf das Herumtollen auf diesem Grundstück. Als er noch sehr klein war, hatte er sich auf diesen Stufen einmal das Knie aufgeschlagen … wie alt war er gewesen? Sieben, vielleicht acht. Man hatte ihn auf die Krankenstation gebracht und ihm gesagt, sein Knie müsse genäht werden, und er hatte sich gefragt, wie in aller Welt sie sein Knie in eine Nähmaschine hineinbekommen wollten. Und als man ihm dann die Nadel zeigte, war er so gespannt darauf gewesen, wie das gemacht wurde, daß er vergessen hatte zu weinen. Das war seine erste wirkliche klare Erinnerung.
    Hatte er Erinnerungen an die Zeit vor dem Waisenhaus? So sehr er sich bemühte, in ihm stieg nur das Bild eines violetten Himmels auf, an dem vier Monde wie Edelsteine hingen, und eine weiche Frauenstimme sagte: »Sieh es dir an, kleiner Sohn, du wirst es jahrelang nicht wiedersehen …« Aus seinen Geographiestunden wußte er, daß es nicht oft eine Konjunktion der vier Monde gab, aber er hatte keine Ahnung, wo er gewesen war, als er die Monde sah, oder wann er sie wiedergesehen hatte. Ein Mann in einem grünen und goldenen Mantel schritt einen langen Korridor aus Stein entlang, der wie Marmor schimmerte, eine Kapuze war lose über flammendrotes Haar geworfen, und irgendwo hatte es einen Raum mit blauem Licht gegeben … Und dann war er im Raumfahrer-Waisenhaus, lernte, schlief, spielte Ball mit einem Dutzend anderer Jungen seines Alters, einem Haufen Kinder in blauen Hosen und weißen Hemden. Mit zehn war er in eine darkovanische Pflegerin verliebt gewesen – wie hatte sie geheißen? Maruca. Sie bewegte sich lautlos in absatzlosen Slippern, ihre weißen Gewänder umflossen sie anmutig, und ihre Stimme war sehr leise und sanft. Sie zauste mir das Haar und nannte mich Tallo, obwohl das gegen die Vorschrift war, und einmal, als ich

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