Die Blutlinie
die Hände, eine unbewusste Geste, die ihre Nervosität verrät. »Er sagte, er würde mir die Wahl lassen. Er könne mich an Ort und Stelle töten und Peter allein großziehen, oder ich könne bleiben und ihm dabei helfen. Er sagte, falls ich bliebe, würde er nie wieder die Hand gegen mich erheben. Er würde sogar in einem eigenen Bett schlafen. Falls ich mich aber zum Bleiben entschied und dann doch zu fliehen versuchte …, würde er mich jagen und mich verfolgen bis ans Ende der Welt, und es würde Wochen dauern, bis ich tot wäre.« Sie hat die Hände so sehr ineinander verkrampft, dass die Knöchel weiß hervortreten. »Ich glaubte ihm. Ich hätte Ja sagen und mich und Peter auf der Stelle umbringen sollen. Aber damals hatte ich noch Hoffnung. Ich dachte immer noch, dass sich die Dinge vielleicht ändern würden.« Ihr Gesicht, ihr Mund, ihre Augen sind voll Bitterkeit.
»Also war ich einverstanden. Er hielt sich an sein Wort. Er schlug mich niemals wieder. Er schlief in seinem eigenen Zimmer, ich in meinem. Selbstverständlich schlief Peter bei ihm. Er wollte sichergehen, dass ich nicht nachts mit Peter davonlief. Er achtete sehr sorgfältig darauf, dass sich keine Möglichkeit dazu ergab.
Peter wurde groß, und als er fünf war, war ich fast zu dem Glauben gelangt, dass sich die Dinge tatsächlich besserten. Das Leben war normal. Nicht wunderbar, aber erträglich. Wie töricht ich damals war! Bald änderte sich alles wieder zum Schlechteren. Und obwohl er mich nicht wieder missbrauchte oder schlug, war das, was er dann tat, viel, viel schlimmer.« Sie zögert, stockt. Lächelt mich schwach an. »Es tut mir Leid, ich brauche eine Tasse Kaffee, bevor ich weitererzählen kann. Sind Sie sicher, dass niemand von Ihnen Kaffee möchte?«
Ich spüre, dass es sie beruhigen würde. »Ich nehme gern einen«, sage ich zu ihr und lächle.
Jenny und Don Rawlings sagen ebenfalls Ja, während Alan um ein Glas Wasser bittet. Lediglich James enthält sich weiterhin.
»Glaubst du all dieses Zeug?«, flüstert Alan mir zu, während Patricia in der Küche ist.
»Ich denke ja«, antworte ich nach einem Moment des Überlegens. Ich sehe Alan an. »Ja, ich glaube ihr.«
Patricia kehrt mit unseren Getränken auf einem Tablett zurück und verteilt sie. Dann setzt sie sich wieder und sieht Alan an. »Ich habe gehört, was Sie gesagt haben.«
Er sieht überrascht und verlegen aus. Beides ist eine Seltenheit bei Alan. »Es tut mir Leid, Miss Connolly. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
Sie lächelt ihn an. »Keine Sorge, das sind Sie nicht, Mr. Washington. Eines erwirbt man durch das Zusammenleben mit einem bösen Menschen, und das ist die Fähigkeit, einen guten Menschen zu erkennen. Sie sind ein guter Mensch. Außerdem ist die Frage berechtigt.« Sie dreht sich in ihrem Sessel um, sodass sie uns die Seite zuwendet. »Hätten Sie etwas dagegen, den Reißverschluss hinten an meinem Kleid zu öffnen, Agent Barrett? Nur zur Hälfte, das sollte genügen.«
Mit erhobenen Augenbrauen stehe ich auf. Ich zögere.
»Keine Sorge, es ist in Ordnung. Machen Sie es nur.«
Ich ziehe den Reißverschluss herunter. Bei dem, was ich sehe, muss ich für einen Moment die Augen schließen.
»Ein ziemlicher Anblick, wie?«, fragt Patricia. »Nur zu, ziehen Sie ihn auf. Lassen Sie es die anderen auch sehen.«
Patricias Rücken – das, was von ihm zu sehen ist – besteht aus einer einzigen Masse von altem Narbengewebe. Der Teil von mir, der nicht entsetzt ist, sondern kühl beobachtet, bemerkt, dass die Narben auf verschiedene Weise erzeugt wurden, zu unterschiedlichen Zeiten. Höchstwahrscheinlich über mehrere Jahre verteilt. Einige sind kreisrund, Brandnarben, verursacht von glühenden Zigaretten. Andere sind schmal und lang. Schnitte. Ich schätze, dass auch Narben von Peitschenhieben darunter sind.
Alle sehen hin, keiner zögert. Das ist der Beweis für ihre Geschichte; er macht sie dreidimensional. Es ist ein furchtbarer Anblick. Ich ziehe den Reißverschluss wieder hoch und kehre zu meinem Platz zurück.
Das sich anschließende Schweigen ist schwer und unbehaglich. Alan durchbricht es schließlich.
»Es tut mir Leid, was Ihnen widerfahren ist, Ma’am«, sagt er. »Und bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihre Geschichte in Frage gestellt habe.«
Patricia Connolly lächelt ihn an. Es ist ein Lächeln, in dem das Mädchen durchschimmert, das sie einst war. »Ich weiß Ihre Freundlichkeit zu schätzen, Mr. Washington. Danke
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