Die Blutlinie
sich in jemanden verwandelt, der Frauen schlägt oder Schlimmeres, dann sollte es etwas geben, das man sehen kann, das einem verrät, mit wem man es zu tun hat. Finden Sie nicht?«
»Ich habe angesichts meiner beruflichen Erfahrungen oft darüber nachgedacht, und ich bin der gleichen Meinung wie Sie, Ma’am«, antworte ich.
»Ja, ich kann mir vorstellen, was Sie meinen«, sagt sie, während sie mich betrachtet. »Dann wissen Sie ja auch, dass es sich eben nicht so verhält. Überhaupt nicht. Tatsächlich ist häufig genau das Gegenteil der Fall. Die hässlichsten Menschen sind manchmal die anständigsten. Und der charmanteste Mann kann ein eiskalter Mörder sein.« Sie atmet tief durch. »Das Aussehen gibt keinen Hinweis darauf, nicht den geringsten.
Wenn man jung ist, dann macht man sich keine Gedanken über derartige Dinge, natürlich nicht. Ich habe meinen späteren Ehemann Keith kennen gelernt, als ich achtzehn Jahre alt war. Er war fünfundzwanzig und einer der hübschesten Männer, die ich je gesehen hatte. Und das ist nicht übertrieben. Eins fünfundachtzig groß, dunkles Haar, das Gesicht eines Schauspielers. Wenn er sein Hemd auszog … sagen wir, er hatte einen Körper, der zu seinem Gesicht passte.« Sie lächelt bei der Erinnerung. Ein trauriges Lächeln. »Als er Interesse an mir zeigte, war ich buchstäblich überwältigt. Wie viele junge Menschen war ich überzeugt, dass mein Leben langweilig sei. Er hingegen war attraktiv und aufregend. Genau das, was der Doktor verschreiben würde.« Sie zögert, sieht uns an. »Das war übrigens unten in Texas. Ich bin nicht in Kalifornien geboren.« Ihre Augen schweifen in die Ferne. »Texas. Flach und heiß und langweilig.
Keith stieg mir nach, auch wenn es kein Marathon war. Mehr ein Sprint. Ich ließ ihn gerade weit genug rennen, um ihn wissen zu lassen, dass ich kein leichtfertiges Ding war. Mir war das damals nicht bewusst, aber er durchschaute mich, als wäre ich aus Glas gemacht. Er wusste von Anfang an, dass er mich am Haken hatte. Er spielte nur deswegen mit, weil es ihn amüsierte. Er hätte mich packen und mir sagen können, dass ich auf der Stelle mit ihm kommen solle, und ich hätte Ja gesagt. Er wusste es, doch er verabredete sich trotzdem ein paar Mal mit mir.
Er war gut in dem, was er tat. Gut darin, so zu tun, als wäre er kein Ungeheuer. Er trat als vollendeter Gentleman auf und gab sich so romantisch, wie ich es bis dahin nur im Film gesehen oder in Büchern gelesen hatte. Lieb, attraktiv, romantisch – ich dachte, ich hätte meinen Traummann gefunden. Den Mann, von dem jedes junge Mädchen überzeugt ist, ihn zu verdienen und eines Tages zu finden.« Ihre Stimme und ihr Lächeln sind bitter.
»Sie müssen wissen, dass ich zu Hause nicht gerade ein leichtes Leben führte. Mein Vater war ein jähzorniger Mensch. Es war zwar nicht so, dass er meine Mutter jeden Tag oder auch nur jede Woche geschlagen hätte. Doch einmal im Monat passierte es. Ich musste mit ansehen, wie er sie ohrfeigte oder auf sie einprügelte, so lange ich mich zurückerinnern kann. Mich hat er nie angerührt. Als ich älter wurde, begriff ich, dass er nicht deshalb darauf verzichtete, weil er mich nicht schlagen wollte. Der Grund war der, dass er, wenn er mich angerührt hätte, dies in einer anderen Absicht getan hätte als der, mich zu schlagen.« Sie hebt die Augenbrauen. »Verstehen Sie?«
Unglücklicherweise verstehe ich. »Ja«, sage ich.
»Ich denke, Keith hat es auch verstanden. Da bin ich mir sicher. Eines Abends, knapp einen Monat, nachdem wir uns kennen gelernt hatten, bat er mich, ihn zu heiraten.«
Sie seufzt, als sie sich erinnert. »Er wählte den perfekten Abend dazu. Es war Vollmond. Die Nacht war kühl, aber nicht kalt. Wundervoll. Er brachte mir eine Rose und teilte mir mit, dass er nach Kalifornien gehen werde. Er wollte, dass ich mit ihm komme, dass ich ihn heirate. Er sagte, er wisse, dass ich fortmüsse von meinem Daddy, und dass er mich liebe und dass dies unsere Chance sei. Natürlich habe ich Ja gesagt.«
Sie schließt die Augen und schweigt sekundenlang. Ich begreife, dass sie diesen Moment als die Stelle betrachtet, an der sie falsch abgebogen ist in ihrem Leben. Von wo aus ihr Weg in die ewige Dunkelheit führte.
»Vier Tage später sind wir weggegangen. Heimlich. Ich habe mich nicht von meinen Eltern verabschiedet. Ich habe meine wenigen Sachen gepackt und mich mitten in der Nacht aus dem Haus geschlichen. Ich habe meine Eltern
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