Die Blutlinie
Alptraum, war endlich tot. Ich hatte meinen Sohn zurück. Das Leben war gut.« Sie wischt sich mit einer Hand über die Stirn. »Ich nehme an, irgendetwas in mir ist in all den Jahren mutiger geworden. Es verging zu viel Zeit, zu viele Nächte, in denen ich diesen Keller nicht aus dem Kopf kriegen konnte. Eines Tages, als Peter in der Schule war, beschloss ich, dass es an der Zeit war, nach unten zu gehen und nachzusehen.
Keith versteckte seinen Schlüssel zum Keller immer unter einer Lampe in seinem Schlafzimmer. Er dachte, ich wüsste es nicht, doch ich wusste es. Also ging ich an jenem Tag in dieses Schlafzimmer, holte Keiths Schlüssel, ging zur Kellertür und schloss sie auf.
Ich stand lange Zeit oben an der Treppe und starrte hinunter in die Finsternis. Rang mit mir selbst. Dann schaltete ich das Licht an und ging diese Treppe hinunter.«
Sie verstummt. Sie schweigt lange, und ich befürchte bereits, dass sie jedes Gefühl für das Hier und Jetzt verloren hat und in jenem vergangenen Moment gefangen ist. Gerade will ich die Hand nach ihr ausstrecken, um ihren Arm zu berühren, als sie wieder anfängt zu reden.
»Ich wartete auf Peter, wartete darauf, dass er von der Schule nach Hause kam. Als er durch die Tür trat, sagte ich ihm, dass ich im Keller gewesen war und was ich gefunden hatte. Ich sagte ihm, dass er mir das Leben gerettet und mich befreit habe und dass er mein Sohn sei. Also würde ich nichts sagen. Doch ich könne ihn nicht länger unter meinem Dach haben. Könne nicht länger mit ihm unter einem Dach zusammen leben.
Ich war zunächst nicht sicher, ob er mir glaubte. Dass ich nicht erzählen würde, was ich gesehen hatte, meine ich.« Ihr Lächeln ist nachdenklich. »Ich nehme an, dass es einen Teil in ihm gab, irgendeinen Teil, der mich liebte. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich seine Mutter war, oder weil er glaubte, etwas zu brauchen, an dem er sich festhalten konnte, etwas, das ihn daran erinnerte, dass er immer noch ein menschliches Wesen war. Jedenfalls sagte er kaum ein Wort. Er packte lediglich seine Sachen, nahm ein paar Dinge aus dem Keller, küsste mich auf die Wange, sagte mir, dass er mich liebe und verstehen könne – und ging zur Tür hinaus. Ich habe ihn seither nicht wieder gesehen. Das ist jetzt fast dreißig Jahre her.«
Erneut fließen ihr Tränen über die Wangen. Sie blickt zu Don Rawlings auf. »Als ich in der Zeitung von diesem armen Mädchen las und dass Peter verdächtigt wurde, wusste ich, dass er es gewesen sein musste. Es passte, verstehen Sie? Es passte zu dem, was ich im Keller gefunden hatte.« Sie ringt die Hände. »Ich weiß, ich hätte etwas sagen müssen. Ich hätte mich bei der Polizei melden müssen. Aber ich … er hatte mir das Leben gerettet, und er war mein Sohn. Ich weiß, dass nichts davon mein Schweigen rechtfertigt. Damals erschien es mir irgendwie richtig. Heute allerdings …« Sie stößt einen Seufzer aus, der Jahrzehnte der Erschöpfung zu enthalten scheint. »Heute bin ich alt. Und müde. Ich bin all der Schmerzen und Geheimnisse und Alpträume überdrüssig.«
»Was haben Sie im Keller gefunden, Patricia?«, frage ich sie.
Sie sieht mir in die Augen. Spielt mit der Goldkette.
»Gehen Sie und sehen Sie selbst nach. Ich habe diese Tür seit fast dreißig Jahren nicht mehr geöffnet. Es ist Zeit, dass sie geöffnet wird.«
Sie zieht das Goldkettchen, mit dem sie unablässig gespielt hat, über den Kopf. Daran hängt ein großer Schlüssel. Sie reicht ihn mir.
»Gehen Sie. Sperren Sie diese Tür auf. Es ist Zeit, dass die Dinge dort unten ans Licht kommen.«
KAPITEL 54
Ich glaube Patricia, was sie gesagt hat. Dass lange, lange Zeit niemand durch diese Tür gegangen ist. Der Schlüssel lässt sich nicht im Schloss umdrehen. Auch das spricht dafür, dass es fast drei Jahrzehnte nicht mehr benutzt worden ist. Alan versucht, die Tür zu öffnen, ein Bild der Konzentration, durchsetzt mit heftigsten Flüchen.
»Ah …«, sagt er, dann folgt ein lautes Klicken. »Ich hab’s.«
Er richtet sich auf und öffnet die Tür. Ich sehe eine Holztreppe, die nach unten in die Dunkelheit führt. Zum ersten Mal schießt mir eine Frage durch den Kopf. »Patricia, wir sind hier in Kalifornien. Die Häuser werden ohne Keller gebaut. Hat Keith ihn nachträglich ausschachten lassen?«
»Sein Großvater hat es getan.« Sie deutet zur Seite links von der Tür. »Sehen Sie die große Verfärbung an der Wand. Keith hat erzählt, dass er ein falsches
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