Die Blutlinie
hätte gedacht, dass sich ein menschliches Wesen so unglaublich schnell bewegen kann? Andererseits war er eigentlich kein menschliches Wesen. Jedenfalls griff ich in dem Moment, in dem er die Augen schloss, mit der Hand unter das Kissen und packte das Messer. Es kann nicht länger als eine halbe Sekunde gedauert haben, bis ich ausgeholt hatte und die Klinge auf seine Kehle zuraste.« Erneut schüttelt sie ungläubig den Kopf. »Er packte mein Handgelenk einen Zentimeter, bevor die Spitze seine Haut berührte. Packte es und hielt es fest wie mit einem Schraubstock. Er war schon immer unglaublich stark gewesen, viel stärker als jeder Mann, den ich je gekannt habe.
Er hielt mein Handgelenk gepackt und lächelte mich an. Lächelte dieses Lächeln und schüttelte tadelnd den Kopf. ›Eine schlechte Idee, Patricia. Eine ganz schlechte Idee. Ich fürchte, das war es für dich.‹« Ihre Hände zittern ein wenig. »Ich hatte eine unglaubliche Angst. Er nahm mir das Messer weg, und dann verprügelte er mich. Er verprügelte mich lange und ausgiebig und gründlich. Er schlug mir ein paar Zähne aus, brach mir die Nase und den Unterkiefer. Ich war kurz davor, endgültig ohnmächtig zu werden, als er sich vorbeugte und mir ins Ohr flüsterte: ›Mach dich bereit zum Sterben, Gebärmaschine.‹ Dann wurde alles schwarz.«
Sie verstummt. Ich bin fasziniert von der Bewegung der goldenen Kette, die sie in der Hand hin und her schiebt.
»Ich wachte im Krankenhaus auf. Ich hatte unglaubliche Schmerzen. Doch es war mir egal, weil ich eines wusste – wenn ich noch am Leben war, konnte das nur bedeuten, dass er tot war. Ich hob den Kopf, und Peter saß neben mir am Bett. Als er merkte, dass ich wach war, ergriff er meine Hand. Wir saßen eine Stunde lang einfach nur da, und keiner sagte ein Wort.
Der Sheriff kam ein paar Stunden später und erzählte mir, was passiert war.« Tränen steigen ihr in die Augen. »Es war Peter. Er hatte meine Schreie gehört. Er platzte in mein Schlafzimmer, als Keith gerade im Begriff stand, mir die Kehle durchzuschneiden. Er hat ihn getötet. Er hat seinen Vater getötet, um mich zu retten.«
Sie schlingt die Arme um ihren Leib, sieht mich verloren an. »Haben Sie eine Vorstellung von den Empfindungen, die einen übermannen bei diesem Gedanken? Nach all diesen Jahren, nach allem, was ich durchgemacht hatte? Die Erleichterung war beinahe unerträglich. Und herauszufinden, dass mein Sohn immer noch mein Sohn war, dass er sich am Ende für mich und gegen seinen Vater entschieden hatte?« Tränen strömen über ihre Wangen. »Ich war sicher gewesen, ihn für immer verloren zu haben … Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment.«
Sie steht auf und wankt zu einem Regal, wo eine Schachtel mit Kleenex steht. Sie bringt die Schachtel zum Wohnzimmertisch, nimmt ein Tuch heraus, um sich die Augen zu trocknen, während sie sich wieder setzt.
»Entschuldigen Sie.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sage ich. Ich meine es ehrlich. Was diese Frau durchgemacht hat, ist unvorstellbar. Manch einer würde sie mit Verachtung strafen, weil sie diesen Missbrauch so viele Jahre über sich hat ergehen lassen. Weil sie nicht stark genug war, sich zu widersetzen. Ich denke, ich weiß es besser als diese Menschen.
Patricia wischt sich die Augen mit dem Kleenex trocken und reißt sich zusammen. »Ich wurde wieder gesund, und wir kehrten nach Hause zurück. Es war eine gute Zeit. Peter liebte mich abgöttisch. Das Abendessen war nicht länger eine schweigsame Stunde, in der niemand sprach. Wir waren …« Ihre Stimme versagt. »Wir waren eine Familie.« Ihr Gesicht wird erneut von Unglück übermannt, Grimm und Bitterkeit kehren zurück wie eine schwarze Maske. »Es war nicht von langer Dauer.«
Ihre Hand kehrt zu dem Goldkettchen zurück. Verdreht es, schiebt es hin und her. »Er ging weiter jeden Abend nach unten in den Keller. Er verbrachte Stunden dort unten. Ich durfte nie hinein. Daher wusste ich nicht, was er dort machte, doch ich hatte Angst. Es war etwas, das er zusammen mit seinem Vater getan hatte, und irgendwie war mir klar, dass es sich um nichts Gutes handeln konnte.
Monate vergingen, in denen ich mich sorgte. Aber ich unternahm nichts. Ich … wie sagt man dazu, wenn man eine Wahrheit ignoriert, weil man nicht will, dass sie wahr ist?«
»Ich glaube, Sie meinen Verdrängung«, antwortet James.
»Das ist es. Ich verdrängte es. Kann man es mir verdenken? Keith, mein langjähriger
Weitere Kostenlose Bücher