Die Blutlinie
Schattenmanns sind furchtlos. Sie befriedigen ihre Bedürfnisse ohne Zögern und Gewissensbisse. Strebe stets danach, dies vorzuleben und das kalkulierte Risiko zu suchen, das Spiel, das dein Blut zum Kochen bring
11. Vergiss niemals, dass du von ihm abstammst – dem Schattenmann.
»Verdammt!«, flüstert Don Rawlings.
Ich nicke.
»Seht euch das hier an!«, ruft Alan und deutet auf drei Reihen von Regalen. »Noch mehr Anatomie. Und alle möglichen Bücher über Jack the Ripper.« Er tritt näher heran und zieht ein Heft aus einem der Regale. Er schlägt es auf. »Dachte ich’s mir«, sagt er und sieht mich an. »Tagebücher.« Er blättert in den Seiten, hält inne, liest. Dann reicht er mir das aufgeschlagene Heft hin.
Ich sehe eine Serie von Schwarzweißfotografien, die sich über mehrere Seiten erstreckt. Die Fotos zeigen eine junge Frau, geknebelt und an einen Tisch gefesselt. Die Wände auf den Fotos sehen aus wie die Wände dieses Kellers. Ich halte einen Moment inne, gehe um die Regale herum.
»Alan«, rufe ich. Er kommt zu mir, und ich deute auf den Tisch vor uns und auf die Fotos in dem Heft.
»Verdammt«, flüstert er, und seine Gesichtszüge sind angespannt. »Das war direkt hier!«
Die Bilderserie zeigt die Vergewaltigung, Folterung und das Ausweiden der jungen Frau. Die Fotos wirken wie eine grausige Gebrauchsanweisung. Als hielte der maskierte Mann auf den Fotos ein Seminar über Qual und Perversion.
»Mein Gott!«, stoße ich hervor. »Wie viele sind das?«
»An die hundert, würde ich sagen.«
Ich blättere die Seiten mit den Fotos durch, bis ich zu einer Seite mit handschriftlichen Einträgen gelange.
Peter zeigt deutlich, dass er unserer Linie entspringt, selbst mit seinen acht Jahren. Er hat zugesehen, wie ich die Hure getötet habe, während er Fotos gemacht und unablässig intelligente Fragen gestellt hat. Sein besonderes Interesse galt dem Prozess des Ausweidens. Ich stelle mit Freuden fest, dass sein Problem mit dem Erbrechen, das seit inzwischen einem Jahr nicht mehr aufgetreten ist, endgültig überwunden zu sein scheint.
Ich blättere ein paar Einträge weiter.
Ich habe Peter heute mit auf die Jagd genommen. Er hatte schulfrei, und ich denke, es ist wichtig, ihn persönlich stärker mit einzubinden. Er ist schließlich bereits zehn Jahre alt. Ich war erfreut. Peter ist talentiert.
Nebenbemerkung: Er wurde verlegen, als ich die Hure auszog, und er bemerkte, dass sein Penis hart geworden war. Ich erklärte ihm den biologischen Hintergrund und zwang die Hure, ihm mit der Hand Vergnügen zu bereiten. Er war fasziniert und schien es zu genießen. Hinterher dankte er mir.
Und weiter:
Heute fragte mich Peter, wie alt ich gewesen sei, als ich meine erste Hure tötete. Ich zögerte, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen. Er ist so voll mit der Kraft unserer Linie, dass ich unwillig war, ihm die Schwäche meines Vaters zu enthüllen. Ich fürchtete, er könne anfangen, die edle Herkunft unseres Blutes zu bezweifeln. Schließlich habe ich ihm dann doch alles erzählt: Wie mein Vater das Geheimnis unserer Blutlinie vor mir zu verbergen trachtete. Wie ich die Wahrheit nur durch eigene Nachforschungen unserer Genealogie herausfand. Von den schwachen Versuchen meines Vaters, alles zu leugnen, als ich ihn mit der Wahrheit konfrontierte. Wie er und meine Mutter versuchten, mir einzureden, ich sei verrückt. Ich hätte mir keine Gedanken wegen Peter machen müssen. Der Ausdruck von Bewunderung in seinen Augen, als ich ihm von meiner Beharrlichkeit und meiner Suche nach der Wahrheit erzählte und von der Rache, die ich an meinem Vater übte, ist etwas, das ich niemals vergessen werde.
»Mein Gott …«, murmelt Alan. »Es ist genau, wie Patricia gesagt hat. Er hat seinen Sohn von frühester Kindheit an beeinflusst und pervertiert.«
»Er hatte nie eine Chance«, bemerkt James. »Nicht, dass es heute noch eine Rolle spielte. Es ist zu lange gewesen. Er ist nicht mehr zu retten.«
Ich antworte nicht. In meinen Ohren höre ich ein lautes Rauschen, und mir ist schwindlig. Elektrische Schocks tanzen durch meinen Körper.
Dann schlage ich die letzte Seite des Hefts auf. Dort sehe ich eine Unterschrift, und sie versetzt mich in Angst, rasende Wut, Unglauben und Scham. Das Gefühl von Verrat ist beinahe übermächtig.
»Vielleicht ist es ja nur Zufall«, murmele ich vor mich hin.
Aber ich weiß, dass es nicht so ist.
Ich blicke wieder zu den zehn Geboten an der Wand, lese das
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