Die Blutlinie
eine gute Therapie für mich zu sein. Ich schätze, der stellvertretende Direktor sieht es genauso.«
Jenny schweigt einen Moment lang. »Smoky, du und ich, wir sind Freundinnen«, sagt sie schließlich. »Wir schicken uns keine Weihnachtskarten oder besuchen uns zu Thanksgiving, nicht diese Art von Freundinnen. Trotzdem sind wir Freundinnen, stimmt’s?«
»Sicher. Natürlich.«
»Dann muss ich dich als Freundin fragen: Bist du wirklich imstande, mit diesem Fall fertig zu werden? Bis zum Ende? Das hier ist eine schlimme Geschichte, Smoky, wirklich schlimm. Du kennst mich, und du weißt, dass ich schon eine ganze Menge gesehen habe. Doch das hier mit ihrer Tochter …« Sie erschauert unwillkürlich. »Ich werde Alpträume deswegen haben. Außerdem ist das, was er deiner Freundin angetan hat, auch alles andere als nett. Und sie war deine Freundin. Ich kann verstehen, wenn du sagst, dass es dir gut tut, wieder ins Wasser zu springen, aber meinst du wirklich, dass sich dieser Fall dafür eignet?«
Ich antworte ihr aufrichtig. »Ich weiß es nicht. Das ist die Wahrheit. Ich bin am Boden zerstört, Jenny. Glaub ja nicht, es wäre nicht so. Von außen betrachtet ergibt es nicht viel Sinn, dass ich an dem Fall mitarbeite, aber …« Ich überlege, bevor ich weiterspreche. »Es ist folgendermaßen: Weißt du, was ich seit Matts und Alexas Ermordung gemacht habe? Nichts. Ich meine damit nicht, dass mir alles nur schwer gefallen wäre. Ich meine buchstäblich nichts. Ich habe den ganzen Tag lang auf einem Stuhl gesessen und die nackte Wand angestarrt. Ich gehe schlafen und habe Alpträume, ich wache auf und starre Wände an, bis ich wieder schlafen gehe. Oh, manchmal sehe ich mich auch stundenlang in Spiegeln an und fahre mit den Fingern über diese Narben.« Tränen wallen in mir auf. Ich bin dankbar, als ich merke, dass es Tränen der Wut und nicht der Schwäche sind. »Ich kann nur eins sagen – so zu leben ist noch schrecklicher als alles, was ich sehen werde, wenn ich mich an den Ermittlungen zu Annies Fall beteilige. Das glaube ich jedenfalls. Ich weiß, es klingt vielleicht egoistisch, aber es ist die Wahrheit.«
Mir gehen die Worte aus wie einer Uhr, die wieder aufgezogen werden muss. Jenny nimmt einen Schluck von ihrem Tee. Das Leben draußen auf den Bürgersteigen brodelt weiter, als wäre nichts geschehen.
»Das leuchtet mir ein«, nickt Jenny. »Und du möchtest von mir wissen, was ich für einen Eindruck vom Tatort habe.« Das ist alles, was sie sagt. Sie lässt mich nicht abblitzen. Sie erkennt meine Entscheidung auf ihre Weise an. Sagt, dass sie es versteht, und kommt zur Sache. Ich bin ihr dankbar dafür.
»Bitte.«
»Der Anruf kam gestern«, sagt sie.
Ich unterbreche sie. »Ging er an dich persönlich?«
»Ja. Der Anrufer hat explizit meinen Namen genannt. Die Stimme war verstellt. Er sagte, ich solle meine E-Mails durchsehen. Ich hätte es vielleicht ignoriert, aber er hat dich erwähnt.«
»Die Stimme war verstellt? Auf welche Weise?«
»Sie klang gedämpft. Als hätte er ein Stück Stoff über die Sprechmuschel gehalten.«
»Irgendein feststellbarer Akzent? Ein ungewöhnlicher Slang? Irgendetwas Auffälliges?«
Jenny sieht mich an, und auf ihrem Gesicht steht ein verwirrtes Lächeln. »Willst du mich wie eine Zeugin bearbeiten, Smoky?«
»Du bist eine Zeugin, Jenny. Zumindest für mich. Du bist der einzige Mensch, der mit ihm gesprochen hat, und du hast den unberührten Tatort gesehen. Ja, du bist eine Zeugin.«
»Meinetwegen.« Ich sehe, wie sie über meine Frage nachdenkt. »Ich würde sagen Nein. Ganz im Gegenteil. An seiner Sprechweise war überhaupt nichts Auffälliges. Seine Stimme klang extrem ausdruckslos.«
»Kannst du dich noch genau an das erinnern, was er gesagt hat?« Ich weiß, dass die Antwort auf diese Frage Ja lautet. Jennifer besitzt ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis. Es ist auf seine Weise genauso beängstigend wie mein Geschick mit Waffen, und die Verteidiger vor Gericht fürchten sie deswegen.
»Ja. Er hat gesagt: ›Spreche ich mit Detective Chang?‹ Ich bejahte seine Frage. ›Sie haben eine E-Mail erhalten‹, sagte er, doch er hat dabei nicht gelacht. Das war eines der Dinge, die mich sofort aufhorchen ließen. Er machte es auch nicht melodramatisch, sondern sprach ganz nüchtern über die Fakten. Ich fragte ihn, wer er sei, und er antwortete: ›Jemand ist tot. Smoky Barrett kennt sie. Sie haben eine E-Mail erhalten.‹ Und dann hat er aufgelegt.«
»Sonst
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