Die Blutlinie
ich, ohne den Blick von Callie zu wenden. »Machen Sie schnell.«
KAPITEL 26
Ich befinde mich auf dem Beifahrersitz von Callies Wagen und bete, dass wir unser Ziel im Ventura County lebend erreichen. Callie jagt den Freeway 101 hinunter wie eine Wahnsinnige, als wollte sie die Schallmauer durchbrechen. Ich kann nur hoffen, dass die anderen noch hinter uns sind. Leo hat die Adresse des registrierten Betreibers der Red Rose Internet Domain gefunden, und Callie ist aufgesprungen und durch die Tür nach draußen gerast, bevor einer von uns reagieren konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterherzurennen.
Ich sehe sie an. Sie besteht aus einem eng ineinander verflochtenen Knäuel aus Angst und Gefährlichkeit.
»Rede mit mir, Callie«, sage ich, während ich mich am Türgriff festhalte.
»Sieh in meinem Portemonnaie nach«, knurrt sie. »In meiner Handtasche.«
Ich ziehe das Portemonnaie hervor und öffne es. Ich weiß, was sie mir zeigen will, sobald ich es sehe. Es ist ein kleines Foto. Schwarzweiß, die Sorte von Babyfotos, die sie im Krankenhaus machen. Es zeigt ein Neugeborenes, die Augen fest geschlossen, der Kopf noch ein klein wenig kegelförmig vom erst kurz zurückliegenden Kampf durch den engen Geburtskanal.
»Ich war damals fünfzehn«, erklärt Callie, während sie mit quietschenden Reifen durch eine Haarnadelkurve jagt. »Fünfzehn und dumm und einfältig. Ich habe mit Billy Hamilton geschlafen, weil er mir den Hof gemacht hat, bis ich den Verstand verlor, und weil er so gut roch. Ist das nicht lustig, Zuckerschnäuzchen?«, fragt sie bitter. »Das ist alles, woran ich mich erinnere, wenn ich an Billy denke. Er roch gut. Wie Sonne und Regen gleichzeitig.«
Ich antworte nicht. Eine Antwort ist auch nicht nötig.
»Billy hat mich geschwängert, und es war der größte Skandal in der Geschichte der Familie Thorne. Und der Hamiltons obendrein. Mein Dad hätte mich fast verstoßen. Meine Mom ging in die Kirche und blieb tagelang dort. Eine Abtreibung kam überhaupt nicht in Frage – wir waren schließlich eine respektable katholische Familie.« Die Worte sind beißend, voller Sarkasmus und Schmerz. »Die Väter setzten sich zusammen und handelten alles aus. So lief das damals in den besseren Kreisen von Connecticut. Billy hatte eine Zukunft, ich vielleicht ebenfalls – auch wenn ich jetzt nicht mehr blütenrein war.« Sie packt das Lenkrad fester. »Sie beschlossen, dass ich das Baby in aller Stille bekommen und während meiner Schwangerschaft zu Hause Privatunterricht nehmen würde. Nach der Geburt sollte es zur Adoption freigegeben werden. Man würde sich eine Geschichte ausdenken, um den Privatunterricht zu erklären – ich hätte eine schwere Allergie und müsste behandelt werden, und dazu waren einige Monate Isolation erforderlich. Das war es, was unsere Väter beschlossen, und genauso geschah es auch.
Das Timing hätte besser nicht sein können. Ich bekam das Baby im Sommer, und nach den Ferien konnte ich zurück in die Schule, als wäre überhaupt nichts gewesen. Und so war es auch – fast. Als wäre niemals etwas passiert.« Eine weitere Haarnadelkurve, quietschende Reifen. »Ich durfte das Haus nicht verlassen, und Billy wurde strengstens verboten, darüber zu reden.«
Sie zuckt die Schultern. »Er war kein schlechter Kerl. Er hielt den Mund, und er hat mich hinterher niemals schlecht behandelt. Die ganze Geschichte … löste sich einfach irgendwie in Luft auf.« Sie nickt in Richtung des Fotos, das ich in der Hand halte. »Obwohl ich damals einfältig und dumm war, wusste ich, dass es nicht richtig ist, so zu tun, als wäre nichts gewesen. Eine der Schwestern hat dieses Foto für mich gemacht. Ich zwang mich dazu, es wenigstens einmal im Monat anzusehen. Und ich traf eine Reihe von Entscheidungen.« Ihre Stimme ist leise und ernst. Ich kann sie mir vorstellen, wie sie allein in ihrem Zimmer sitzt und stille Eide schwört. »Ich nahm mir vor, niemals wieder einfältig und dumm zu sein. Ich war fertig mit der katholischen Kirche. Und es war das letzte Mal, dass irgendjemand anders für mich eine Entscheidung traf, die mein Leben veränderte.«
»Mein Gott, Callie!« Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.
Sie schüttelt kurz den Kopf. »Ich habe nie versucht, sie zu finden, Smoky. Das wäre mir falsch erschienen, weil ich wusste, dass sie inzwischen adoptiert worden war. Und ich war zu dem Schluss gekommen, dass sie ein Recht darauf hatte, ihr eigenes Leben zu leben.«
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