Die Blutlinie
betäubt. Emotionen huschen über ihr Gesicht. Schock, Staunen, Trauer, Zorn – und keine vermag sich festzusetzen. »Ich weiß nicht … ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu …« In einer hastigen, fließenden Bewegung steht sie auf, packt ihr Baby. »Ich lege ihn schlafen. Ich bin gleich wieder zurück.«
Sie verlässt das Zimmer, steigt die Treppe ins obere Stockwerk hinauf.
Callie lehnt sich zurück, schließt die Augen. Sie sieht unendlich müde aus, als könnte sie Millionen Jahre lang schlafen. »Das ist gut gegangen, Zuckerschnäuzchen.«
Ich sehe sie an. Ihr Gesicht ist verhärmt, erschöpft. Leer. Was soll ich zu ihr sagen? »Sie lebt, Callie.«
Diese einfache Wahrheit scheint sie zurück ins Leben zu rufen. Eine Wahrheit wie jene, die sie mir im Krankenhaus gesagt hat. Callie öffnet die Augen und sieht mich an. »Wie unglaublich naiv optimistisch du warst«, erwidert sie mit einem Lächeln. Ich bemerke Nervosität in ihrer Stimme, doch ich fasse auch neuen Mut.
Wir hören Schritte die Treppe herunterkommen. Marilyn betritt das Wohnzimmer. Sie scheint sich oben die Zeit genommen zu haben, ihre Fassung zurückzugewinnen. Sie sieht vorsichtig aus, misstrauisch, nachdenklich. Vielleicht sogar ein klein wenig neugierig.
Ich bewundere für eine Sekunde, wie schnell sie sich gefasst hat, dann fällt mir ein, wessen Gene sie trägt.
»Möchten Sie vielleicht irgendwas? Kaffee oder ein Wasser?«
»Kaffee wäre nicht schlecht«, sage ich.
»Ich ziehe Wasser vor«, sagt Callie. »Im Augenblick brauche ich wirklich keine weiteren Stimulanzien für meinen Kreislauf.«
Ihre Äußerung bringt ihr die Andeutung eines Lächelns von Marilyn ein. »Kommt sofort.«
Sie geht in die Küche und kehrt mit einem Tablett zurück. Reicht mir meinen Kaffee und deutet auf Milch und Zucker. Gibt Callie ihr Wasser und nimmt sich zuletzt selbst eine Tasse Kaffee. Setzt sich, schlägt die Beine übereinander und hält die Tasse in beiden Händen, während sie Callie mustert.
Jetzt, nachdem der Schock ein wenig abgeklungen ist, erkenne ich ihre Intelligenz. Sie ist in den Augen zu sehen. Und ihre Stärke. Nicht die gleiche Stärke wie die von Callie, nicht ganz so hart. Eine Mischung. Eine Mischung aus Elaina und Callie. Urmutter aus Stahl.
»Sie sind also meine Mom«, sagt sie und kommt direkt zur Sache. Ganz wie Callie.
»Nein.«
Marilyn runzelt die Stirn. »Aber ich … ich dachte, Sie hätten gesagt …«
Callie hebt die Hand, und Marilyn verstummt. »Ihre Mutter ist die Frau, die Sie aufgezogen hat. Ich bin die Frau, die Sie im Stich gelassen hat.«
Ich verziehe das Gesicht, als ich den Schmerz in ihrer Stimme höre. Die Andeutung von Selbstverachtung. Marilyns Stirnrunzeln vergeht.
»Na schön, dann eben meine leibliche Mutter.«
»Schuldig im Sinne der Anklage.«
»Wie alt sind Sie?«
»Achtunddreißig.«
Marilyn nickt zu sich selbst, während sie im Geiste rechnet. »Dann waren Sie fünfzehn, als Sie mich bekommen haben.« Sie nimmt einen Schluck Kaffee. »Verdammt jung.«
Callie schweigt. Marilyn sieht sie an. Ich sehe keinen Ärger, nichts außer Neugier. Ich wünschte, Callie würde es ebenfalls bemerken.
»Erzählen Sie mir mehr darüber.«
Callie senkt den Blick. Nippt an ihrem Wasser. Sieht Marilyn wieder an, direkt in die Augen. Ich verhalte mich still und unauffällig. Eigenartig, denke ich. Wir stürmen mit gezogenen Waffen ins Haus, mit einer Geschichte über einen Serienkiller. Und was will Marilyn als Erstes hören? Die Geschichte ihrer Mutter. Ich wundere mich darüber und frage mich, ob das uns Menschen einfach lächerlich macht oder zu besseren Wesen.
Callie fängt an zu reden. Langsam zuerst, dann immer schneller. Sie erzählt ihrer Tochter die Geschichte von dem bezaubernden Billy Hamilton und den arroganten Thornes. Marilyn lauscht, ohne zu unterbrechen, während sie ihren Kaffee trinkt. Als Callie fertig ist, schweigt Marilyn lange Zeit.
Dann stößt sie einen leisen Pfiff aus. »Wow. Das ist heftig.«
Ich muss unwillkürlich grinsen. Genau wie ihre Mutter, denke ich. Eine Meisterin der Untertreibung.
Callie schweigt. Sie sieht aus wie jemand, der darauf wartet, verurteilt zu werden.
Doch Marilyn verurteilt ihre Mutter nicht. Sie winkt ab. »Es war nicht deine Schuld, schätze ich.« Sie zuckt die Schultern. »Ich meine, es war scheiße. Aber du warst erst fünfzehn. Ich mache dir keinen Vorwurf.« Es kommt als unvermittelte Feststellung. Callie senkt den Blick, starrt auf den
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