Die Blutlinie
Wohnzimmertisch.
Marilyn wartet, bis sie wieder aufblickt. »Nein, ehrlich nicht, ich mache dir keinen Vorwurf. Ich wurde von wunderbaren Leuten adoptiert. Sie lieben mich, ich liebe sie. Ich habe eine gute Kindheit gehabt. Ich schätze, all das sollte irgendwie viel melodramatischer ablaufen. Es ist dramatisch, versteh mich nicht falsch – aber ich hab die vergangenen dreiundzwanzig Jahre nicht damit verbracht, mich von dir betrogen oder im Stich gelassen zu fühlen oder dich zu hassen.« Sie zuckt die Schultern. »Ich weiß nicht. Das Leben verläuft eben nicht geradlinig. Wenn ich das richtig sehe, war es für dich viel schwieriger als für mich.« Sie schweigt für einen Augenblick. Als sie weiterspricht, klingt ihre Stimme angespannt. »Manchmal habe ich an dich gedacht, zugegeben. Und ich muss sagen, die Wahrheit ist viel besser als das, was ich mir vorgestellt habe. Beinahe eine Erleichterung, ehrlich.«
»Wie meinst du das?«, fragt Callie.
Marilyn grinst. »Du hättest eine drogensüchtige Nutte sein können. Du hättest mich im Stich lassen können, weil du mich hasstest. Du hättest tot sein können. Glaub mir, diese Erklärung ist für mich viel leichter zu akzeptieren.«
Ihre Worte scheinen eine beinahe magische Wirkung auf Callie zu haben. Ich kann sehen, wie die Farbe in ihre Haut zurückkehrt, wie wieder Leben in ihre Augen kommt. Sie richtet sich auf. »Danke. Danke für deine Worte.« Sie zögert, senkt den Blick in den Schoß. »Es tut mir Leid.« Mein Gott, sie klingt wie das lebendige Elend. Ich will sie umarmen und trösten.
Marilyns Augen glitzern. Ihre Stimme ist tadelnd. »Hör auf, dich selbst zu zerfleischen. Auch wenn es irgendwie Sinn macht.«
Callie runzelt die Stirn. »Wie das?«
»Na ja, sieh mich an. Du hast das Baby bemerkt, oder? Und ich bin unverheiratet.«
Callie hebt die Augenbrauen. »Du meinst …?«
Marilyn nickt. »Ja. Ich hatte meinen eigenen Billy Hamilton.« Ein weiteres Schulterzucken. »Aber das ist in Ordnung. Er ist weg, und ich habe Steven. Ein mehr als guter Tausch, wenn du mich fragst. Meine Eltern unterstützen uns, und sie sorgen dafür, dass ich wieder aufs College gehen und meinen Abschluss machen kann.« Sie beugt sich vor und sieht Callie fest in die Augen. »Mach dir klar, dass das, was du getan hast, mich nicht in den Untergang gestürzt hat, okay?«
Callie seufzt. Tippt mit den Fingern auf die Lehne. Blickt sich im Zimmer um, trinkt von ihrem Wasser. Denkt über das Gesagte nach. »Na ja, verdammt.« Sie lächelt. »Es fühlt sich merkwürdig an, so glimpflich davongekommen zu sein.« Sie zögert und greift in ihre Handtasche. »Möchtest du etwas sehen?«, fragt sie Marilyn. Sie zieht das Babyfoto hervor, das ich gesehen habe, und reicht es ihr.
Marilyn betrachtet es neugierig. »Das bin ich?«
»Am Tag deiner Geburt.«
»Mann, war ich hässlich.« Sie blickt vom Foto auf und mustert Callie. »Du hast es seit damals mit dir rumgetragen?«
»Immer.«
Marilyn gibt ihr das Bild zurück. Ihre Augen sind sanft. Was sie als Nächstes sagt, hätte auch von Callie sein können, ganz und gar.
»Meine Güte, sind wir hier vielleicht in einer Reality-Show fürs Fernsehen oder was?«
Schockiertes Schweigen, dann lachen wir alle laut und erleichtert auf. Es ist okay. Alles ist okay.
KAPITEL 28
Wir sind oben, an Marilyns Computer, und betrachten die Red Rose Webseite.
»Ich wünschte, das wäre ich«, sagt sie. »Aber glaub mir, das bin ich nicht.« Sie lächelt Callie an. »Meine Titten sind nicht so groß. Und ich hab Schwangerschaftsstreifen auf dem Bauch.«
»Ausgeschnitten und eingefügt, mehr nicht«, stellt Callie fest. »Dein Gesicht auf dem Rumpf von Mrs. Topless.« Sie fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Er hat es nur getan, um mir eins auszuwischen.«
Marilyn wendet sich vom Bildschirm ab. »Bin ich in Gefahr? Sind wir – Steven und ich – in Gefahr?«
Callie antwortet nicht direkt. Wägt ihre Worte ab. »Es wäre möglich. Ich bin nicht sicher. Du passt nicht in sein Profil. Allerdings …«
»Serienmörder sind unberechenbar.«
»Ja.«
Marilyn nickt, während sie nachdenkt. Ich bin überrascht, dass sie nicht mehr Angst zeigt. »Das reicht beinahe aus, um mich noch einmal über mein Hauptfach nachdenken zu lassen.«
Callie runzelt die Stirn. »Was ist denn dein Hauptfach?«
»Kriminologie.«
Callies Unterkiefer sinkt herab. Genau wie meiner. »Du machst Witze.«
»Nein. Unheimlich, wie?« Ein schiefes Grinsen.
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