Die Blutlinie
zu mir zu kommen, in mein … wie hat er es genannt? Geisterschiff von einem Zuhause?
Aber zuvor will ich einen Augenblick für mich allein sein. Die Dinge haben sich mit solch halsbrecherischer Geschwindigkeit entwickelt – physisch, mental, emotional. Ich bin voller Energie und zugleich erschöpft. Ich denke über die vergangenen Tage nach. Ich bin nicht länger selbstmordgefährdet, ich will leben. Ich habe meine beste Freundin verloren. Und ich habe mich mit meiner ältesten Freundin ausgesöhnt, mit meiner Waffe. Ich habe eine stumme Ziehtochter bekommen, die sich vielleicht niemals erholen wird. Ich erinnere mich wieder daran, dass ich meine eigene Tochter erschossen habe. Ich habe erfahren, dass Callie nicht nur eine Tochter, sondern sogar einen Enkel hat. Ich weiß, dass eine Frau, die ich liebe und verehre, Elaina, an Krebs erkrankt ist und vielleicht nicht geheilt werden kann. Und ich habe mehr über das Geschäft mit der Pornografie gelernt, als ich je wollte. – Ja, die Kugeln sind mir um die Ohren geflogen.
Im Augenblick jedoch herrscht Waffenruhe, und es ist Stille eingekehrt. Zeit, die ich nutzen muss wie ein guter Soldat. Ich stehe auf und verlasse das Büro, schließe die Tür hinter mir ab, gehe durch den Gang zum Aufzug.
Auf dem Weg nach unten wird mir bewusst, dass mein Augenblick der Stille ein anderer ist als bei einem normalen, durchschnittlichen Menschen. Es ist eine Gelegenheit zum Ausruhen. Doch es ist zugleich eine Stille, die angefüllt ist mit Anspannung und Unruhe. Weil ich nie weiß, wann die Kugeln wieder fliegen.
Was machen Jack Junior und sein Partner in diesem Moment? Ruhen sie sich ebenfalls aus? Sammeln sie Kraft für ihren nächsten Mord?
Als Alan mir öffnet, merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Er sieht verstört aus, wütend, den Tränen nahe und gleichzeitig, als würde er am liebsten morden.
»Dieser Scheißkerl! « , zischt er.
»Was ist passiert?«, frage ich alarmiert, während ich mich an ihm vorbei ins Haus schiebe. »Ist alles in Ordnung mit Elaina? Mit Bonnie?«
»Niemand ist verletzt. Aber dieser Scheißkerl …« Er steht für eine Sekunde reglos da, ballt die Fäuste. Wäre er nicht mein Freund, würde er mir Angst machen. Er geht zu einem Beistelltisch, nimmt einen großen manilabraunen Umschlag und reicht ihn mir.
Ich sehe auf die Anschrift. Er ist adressiert an »Elaina Washington: Ruhe in Frieden«. Mir wird plötzlich kalt.
»Sieh hinein«, grollt Alan.
Ich öffne den Umschlag. Eine maschinengeschriebene Notiz, dahinter eine Reihe von Blättern. Als ich darauf sehe, begreife ich.
»Scheiße, Alan …«
»Ihre verdammte Krankenakte«, flucht er und marschiert auf und ab. »Alles über ihren Tumor, die Notizen ihrer Ärzte.« Er reißt mir die Sachen aus der Hand, blättert darin. »Sieh dir diese Stelle an. Er hat sie für Elaina unterstrichen!«
Ich nehme die Blätter und lese die Stelle.
» Mrs. Washington befindet sich im zweiten Stadium, kurz vor dem dritten. Aussichten gut, trotzdem muss die Patientin wissen, dass das dritte Stadium möglich ist, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. «
»Lies diese beschissene Notiz!«
Ich sehe auf das Blatt, sehe die Grußformel.
Hallo Mrs. Washington!
Ich würde mich nicht als einen Freund Ihres Ehemannes bezeichnen. Eher als … eine Art Geschäftspartner. Ich dachte, Sie würden gern die Wahrheit über Ihre gegenwärtige Situation erfahren.
Wissen Sie, wie hoch die Überlebenswahrscheinlichkeit für das dritte Stadium ist, meine Liebe? Ich zitiere: › Stadium III: Metastasen in den Lymphknoten um den Grimmdarm herum, 35 bis 60 Prozent Überlebensrate für die nächsten fünf Jahre. ‹
Meine Güte, wenn ich ein Wettfan wäre, müsste ich wohl gegen Sie setzen.
Viel Glück – ich werde Ihre Fortschritte im Auge behalten.
From Hell
Jack Junior
»Stimmt das, Alan?«
»Nicht so, wie er es darlegt, nein«, schnaubt er. »Ich habe den Arzt angerufen. Er sagt, wenn er sich wirklich Sorgen machen würde deswegen, hätte er es uns gesagt. Er habe uns nichts verschwiegen. Scheiße, er hat sich die Notizen nur gemacht, um nicht zu vergessen, was er uns beim nächsten Besuch sagen wollte.«
»Aber Elaina hat sie gelesen, ohne Erklärung.«
Die Antwort sehe ich am Elend in seinen Augen.
Ich wende mich für einen Moment ab, lege mir die Hand an die Stirn. In mir kocht eine weißglühende, alles verzehrende Wut. Von allen Menschen, die er sich als Opfer aussuchen konnte, ist
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