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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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identifizieren.«
    Tannhäuser wandte sich nach Süden, ritt am Collège d’Harcourt und am Roten Ochsen vorbei in die Rue de la Harpe. Jenseits des Gasthauses, als sollte er die Grenze markieren, hinter der Moral, Recht und Gesetz nicht mehr galten, hing ein Toter an den Knöcheln kopfüber von der Eisenstange eines Ladenschilds. Tannhäuser lenkte Clementine im großen Bogen darum herum.
    Der Leichnam war nackt, und jemand hatte ihm ein Kreuz auf den Bauch geritzt. Tannhäuser drängte sein Pferd weiter.
    Leichen lagen im Staub der Straße. Fünf. Zehn. Zwei Dutzend. Mehr. Er hörte auf zu zählen. Die meisten waren mehr oder weniger erwachsene Männer. Mit Äxten oder Knüppeln erschlagen, erstochen, erwürgt, oft alles miteinander. Überall lagen sie, auf der Schwelle ihres Hauses ermordet, am Ausgang einer Gasse, mit den falschen Kleidern, dem falschen Gesicht, dem falschen Namen draußen erwischt. Zwei hingen von improvisierten Galgen. Männer, die alle Warnungen in den Wind geschlagen oder sie nicht gehört hatten.
    Niemand überhörte die Warnungen jetzt mehr. Nach dem Gewimmel von gestern war die Straße nun gespenstisch leer. Wie anderswo hatte man auch hier das Gefühl, dass unzählige Menschen ängstlich hinter verbarrikadierten Fenstern und Türen kauerten. Schreie hallten fern und nah zwischen den Mauern wider, wie man sie als Warnung oder Aufmunterung bei einer Jagdpartie hört. Straßenköter bellten. Tannhäuser hörte Schreckensschreie, die so schrillwaren, dass er nicht unterscheiden konnte, ob sie aus der Kehle eines Mannes, einer Frau oder eines Kindes stammten.
    In Paris lebten dreißig- oder vierzigtausend Hugenotten. Er wollte der Bürgermiliz immer noch nicht die Gerissenheit, nicht einmal die Gemeinheit zutrauen, eine Säuberungsaktion dieses Ausmaßes auszuführen. Aber Hunderte kleiner Massaker, von einigen wenigen fanatischen Todeskommandos begangen, das mochte er glauben. Wenn man ihnen keinen Einhalt gebot, konnten solche fanatisierten Banden so viel Schaden anrichten wie eine ganze Armee.
    Luzifer trabte zu jedem Leichnam und schnüffelte. Nach seiner ganz eigenen Logik pisste er auf manche, auf andere nicht. Das Blut in seinem Fell war eingetrocknet, und nun standen die Haare an seiner vorderen Hälfte steif und stachelig hoch und ließen ihn viel massiger aussehen. Der Hund war auf einen neuen Geruch aufmerksam geworden, den auch Tannhäuser bemerkt hatte. Die Rauchwolke, die über die Dächer herüberwehte, roch nach verkohltem Papier, und einzelne graue Fetzen schwebten langsam zu Boden. Es stank auch nach verbranntem Fleisch.
    Als Tannhäuser über eine Straßenkreuzung ritt, sah er eine Bande Männer, die die Türen zweier angrenzender Häuser mit Äxten und den Schäften ihrer Piken einschlugen. Junge Männer, die Tannhäuser für Studenten hielt, warfen Steine durch die Fenster und brüllten den Menschen im Inneren der Häuser Drohungen und höhnische Bemerkungen zu, drängten sie oder forderten sie heraus, die Türen aufzusperren. Sie schauten Tannhäuser an, der blickte zurück, und sie wandten sich ab.
    Am Ende dieser Straße konnte er die Mauerkrone der Stadtmauer sehen. Der Brandgeruch wurde stärker. Tannhäuser kam zur Straße, in der der Drucker lebte.
    Er hielt an und stieg ab.
    Er schaute vorsichtig um die Ecke und sah mitten auf der Straße einen brennenden Scheiterhaufen. Die meisten Flammen waren schon erloschen. Der Haufen hatte zum größten Teil aus Büchern bestanden, deren Asche sich nun zu einem großen schwarzen Haufen auftürmte. Als ein Windzug die Glut streifte, breiteten sich plötzlich glühende rote Streifen in der Asche aus, und hier und dazüngelten Flammen in den Himmel. Inmitten des Haufens befand sich ein verkohlter, gefesselter Leichnam, der Größe nach zu schätzen wahrscheinlich der eines Mannes. Ein Milizmann stand jenseits des Feuers und kratzte sich. Ein zweiter tauchte aus der Tür unter einem Schild mit dem Namen Daniel Malan auf. Er trug Tannhäusers Radschlossgewehr, das er im Sonnenlicht verwundert untersuchte.
    Tannhäuser wandte sich um. Er band Clementine an das eiserne Geländer vor einem Laden.
    Er schaute zu Grégoire und Juste.
    »Ich bin gleich wieder da, aber euch wird die Zeit meiner Abwesenheit viel länger erscheinen. Wenn jemand vorbeikommt, besonders die Bürgermiliz oder Studenten, so müsst ihr zur Flucht bereit sein. Haltet euch von denen fern. Lasst sie nicht nah genug heran, dass sie euch packen können. Traut

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