Die Blutnacht: Roman (German Edition)
ihm in einer dritten raschen Bewegung die Handfläche auf. Sie hängte sich den hingefallenen Korb der Frauüber den Arm und rannte durch das übliche Gewusel auf die Gasse zu. Schreie, glotzende Gesichter. Ein dicker Mann versperrte ihr den schmalen Eingang zur Gasse. Sie täuschte einen Haken nach links an, wirbelte nach rechts und spürte seine Finger in ihrem Haar. Blitzschnell stach sie zweimal zu, schlitzte ihm die Hand bis auf den Knochen auf. Er ließ ihr Haar los, griff aber den Korb. Den überließ ihm Estelle und rannte mit der Börse fort. Sie lief wie eine Ratte. Ihr Herz klopfte, und sie bekam kaum noch Luft. Aber ihre Augen waren überall – hielten Ausschau nach Fluchtmöglichkeiten. Und ihre Füße waren bereit, sie in jede Richtung zu tragen.
Zwei weitere Männer ragten vor ihr auf, einer hinter dem anderen.
Als sie ihren Lauf verlangsamte, um einen Haken zu schlagen, grunzte der erste Mann und bäumte sich nach hinten.
Als er hinfiel, erkannte sie, dass der zweite Mann Grymonde war.
»Lauf, La Rossa, lauf. Hinter mir her. Zum Friedhof.«
So hatten ihre Flüge mit dem Drachen begonnen. Grymonde hatte ihr gesagt, sie sollte die Taschendiebereien lassen, denn bestenfalls würde sie damit in einem Sklavenbetrieb für unverbesserliche Kriminelle fern von Paris landen. Er versprach, ihr so viel Beute abzugeben, dass Typhaine zufrieden war, und machte das auch. Sie musste ihm versprechen, Typhaine nie zu verraten, woher die Beute stammte. Sie sah ihn nicht so oft, wie sie wollte; aber er war ihr Licht in der Dunkelheit. In der Grande Truanderie lebten wahrhaftig genug Schurken, aber selbst dort fürchtete man die Höfe. Zumindest konnte man die Truanderie finden. In den Höfen war nichts zu finden, außer noch größerer Armut und noch kürzerer Lebenserwartung ; und doch besaß Cockaigne für Estelle den Zauber eines Märchenkönigreichs.
Wenn sie Grymonde von Les Halles nach Norden durch die Höfe bis Cockaigne folgte, schimpfte er mit ihr und schickte sie immer zu Typhaine zurück. Aber mehr und mehr gestattete er ihr, sich in seiner Nähe aufzuhalten, obwohl er sie niemals mit in sein Haus nahm. Sie hatte gedacht, dass Typhaine nichts über ihr geheimes Leben wusste; bis letzte Woche, als Typhaine Estelle dazu überredet hatte, Grymonde darum zu bitten, Joco und Gobbo Arbeit zu geben.
»Wenn er wirklich ein so guter Freund von dir ist, warum sollteer das dann nicht tun?«, fragte Typhaine. »Das bringt auch dir Geld ein. Was zu essen. Und Kleider auf den Leib. Und er plant da was. Frag ihn. Wenn er nicht will, dann sagt er es.«
Estelle hatte Grymonde gefragt.
»Sie will dich also nicht daran hindern, mich zu besuchen?«
»Sie könnte mich gar nicht daran hindern.«
Grymonde hatte mit Joco und Gobbo geredet. Er hatte ihnen die Arbeit gegeben.
Letzte Nacht war Estelle auf das Dach und durch den Kamin geklettert.
Grymonde hatte nicht gewollt, dass sie das machte, und Estelle wollte auch nicht.
Es war Jocos Idee gewesen, aber Estelle wusste, dass es ein guter Plan war. Grymonde hatte ihr die Wahl gelassen, und weil sie wusste, dass sie damit ihrem Drachen helfen würde, hatte sie ja gesagt.
Und jetzt war sie verstoßen worden, und alles nur wegen der Dame aus dem Süden.
Carla.
Estelle weinte nicht gern. Sie hatte gelernt, das nicht zu tun, außer wenn es einem Zweck diente, und das war nicht oft. Aber als sie um Les Halles herumstrich und nach Norden in Richtung Rue Saint-Denis wanderte, weinte sie. Sie hörte andere Schreie, die in den Straßen widerhallten, aber das war ihr gleichgültig. Hier und da sah sie Leichenhaufen und Scharen von Männern mit Äxten und Speeren, aber die waren ihr auch gleichgültig, und sie scherten sich nicht um das Mädchen.
Carla war nicht gemein gewesen, obwohl Estelle zu ihr gemein gewesen war. Carla war sanft gewesen. Sie hatte Grymonde erzählt, Estelle wäre mutig gewesen. Altan hätte sie getötet, das wusste sie. Doch sie wusste auch, dass Carla irgendwie der Grund für ihre Verbannung war.
Sie konnte Grymonde nicht hassen. Grymonde war der König, also musste er manchmal gemein sein, selbst zu ihr; obwohl er nie zuvor gemein zu ihr gewesen war. Sie hatte versagt, das stimmte. Aber wenn Mut nicht reichte, was dann? Sie hatte sonst nichts zu geben. Gar nichts.
Was sie am meisten quälte, war, dass Grymonde Carla in sein Haus mitgenommen hatte.
Warum?
Estelle hatte er nie mitgenommen. Niemals.
Estelle versiegten die Tränen. Ihr Bauch tat weh,
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