Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Überreste in Sicherheit sind. Ich bringe meinen Sohn Orlandu hierher. Grégoire auch. Wir halten zusammen. Die Gerechtigkeit kann warten. Wir wollen nur am Leben bleiben.«
Auf der Straße sprach er mit Frogier.
»Jetzt, da man uns als Verbündete kennt, wird Marcel früher oder später bei Euch auftauchen. Erzählt ihm nichts von diesen Kindern. Er ist hinter mir her, nicht hinter ihnen. Sie haben mit diesem Spiel nichts zu tun.«
»Mit welchem Spiel?«
»Man hat mir nicht einmal die Spielregeln genannt, aber wahrscheinlich ist der Tod der Schiedsrichter. Sagt Marcel, dass ich die Kinder in die Ville gebracht habe. Sagt ihm, das wir beide, er und ich, einander zu gegebener Zeit treffen werden. Wenn den Kindern etwas zustößt …«
»Ja, ich weiß, dann erdrosselt Ihr mich.«
»Dann brenne ich dieses Haus nieder, mit Euch und Eurer Schwester darin.«
KAPITEL 18
M AGDALENA
Estelle wachte in der stickigen Dämmerung auf und sah Reihen von menschlichen Schädeln, die aus dem Schatten auf sie herunterstarrten. Die ängstigten sie nicht, denn sie hatte sie schon zu oft gesehen. Und verglichen mit dem, was sie in ihren Träumen erblickt hatte, schenkten die Totenschädel ihr Trost. Ihr anderer Trost, die Ratten, waren fortgerannt, von dem Totengräber aufgeschreckt, der sie geweckt hatte. Den kannte sie auch, er war eine freundliche Seele. Seine Kollegen hätten sie mit einem Tritt geweckt. Das waren harte Burschen, die bis zu den Knien in den Todesgruben vor der Kirche standen. Estelle stand mit dem Rücken an der Wand neben der Tür des Beinhauses. Dann taumelte sie stumm ins blendende Sonnenlicht.
Sie rieb sich die Augen, als sie zum Tor der Cimetière des Innocents stolperte. Ihre Füße waren schwer, der Schlaf steckte ihr noch in den Knochen und vernebelte ihr die Sinne.
Sie war die ganze Nacht wach gewesen. Das Gesicht tat ihr noch weh von Gobbos Ohrfeige. Ihre Erschöpfung war nun beinahe größer als vor dem Einschlafen. Da hatte sie noch ihre Ratten auf dem Schoß gehabt, die sie mit ihren kleinen schwarzen Augen und bebenden Nasen anschauten. Eine hatte kurz an ihrer Brust gesaugt, was ihr immer gefiel. Noch nie hatte sie Gemeinheit in den Augen einer Ratte gesehen. Sie glaubte nicht, dass Ratten überhaupt gemein sein konnten. Vielleicht hassten die Menschen sie deswegen so sehr. Estelle wusste, dass sie selbst viel Gemeinheit in sich hatte.Sie hatte sich mit viel Mühe angewöhnt, gemein zu sein, mehr und immer mehr. So kam man zu etwas. Je gemeiner man war, desto höher stieg man auf.
Sie hatte großen Hunger. Sie war halbnackt. Aber es gab ja in dieser Stadt genug halbverhungerte, halbnackte Kinder. Das würde niemanden stören.
Sie wanderte ziellos in Les Halles herum. Sie kam an Saint-Eustache vorüber. Mit dem Bau dieser Kirche hatte man schon vor ihrer Geburt begonnen – Grymonde sagte, sogar schon vor seiner Geburt –, aber sie hatte sich nie verändert. Immer noch war sie nichts als eine Riesenplatte auf einem Acker und ein riesiger Torbogen mit ein paar Mauerteilen, angefangen, aber nicht vollendet. Die Leute benutzten sie, genau wie auch die Beinhäuser, als Latrine oder für ihre brünstigen Zusammenkünfte und für Prügeleien und Messerstechereien und andere gemeine Dinge. Grymonde sagte, man könnte die Steine nicht bezahlen, um sie fertig zu bauen. Stattdessen hätte man alles Gold für Kriege ausgegeben. Genug Gold, um das ganze Land in ein Schlaraffenland zu verwandeln.
Grymonde hatte sie auf den Schultern durch alle Straßen und Gassen getragen, durch alle Gänge von Les Halles, über alle Märkte und Kais, vorüber an allen Palästen und Brunnen und Kirchen und durch Felder, auf denen Pferde grasten, sogar über die Brücken zur Cité und Université. Und überall hatte er sie auf den Schultern getragen, wann immer sie sich getroffen hatten, und er war es nie müde geworden.
Sie trafen sich insgeheim wie Spione an einem verabredeten Ort, und dann rannte sie zu ihm, stellte sich mit dem Rücken zu ihm hin und hörte ihn lachen, das tiefste und wunderbarste Geräusch, das sie je gehört hatte. Und sie spürte, wie Riesenhände sie bei der Taille packten, und dann: Ekstase. Ihr blieb die Luft weg, und sie kreischte vor Begeisterung, und sie schoss in die Luft, und der Kopf schwirrte ihr, und die ganze Welt veränderte sich, und dann stürzte sie herunter, und ihr Magen hüpfte, wenn sie auf seinen Schultern landete und ihre Hände in seine lockigen Haare krallte, damit sie
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