Die Blutnacht: Roman (German Edition)
und ihr war schwindelig.
Sie ging nach Hause.
Typhaine und die Brüder hatten zwei Zimmer im zweiten Stock eines Hauses gemietet. Die Brüder waren nicht immer hier gewesen. Doch inzwischen war es schon der dritte Sommer, in dem Estelle ihre Wutanfälle und ihren Gestank aushalten musste. Als Estelle an die Tür kam, hörte sie ihre Mutter und Joco streiten.
»Sie haben ihm den Schwanz und die Eier abgehackt«, winselte Joco.
»Kein großer Verlust für die Welt, und uns wird er auch nicht fehlen«, erwiderte Typhaine. »Ich hätte euch Scheißkerle schon längst rausschmeißen sollen. Schaut mich an. Früher hatte mich ein Graf im Bett und mehr als einmal.«
»Als ob wir das nicht wüssten! Die ganze Straße weiß es. Herrgott noch mal!«
Joco stieß einen langen Seufzer aus. Estelle trat ins Zimmer und sah Joco keuchend auf dem Bett liegen. Er krümmte sich, und seine Hände krallten sich qualvoll in die Matratze. Er stieß eine Reihe von kurzen Wimmerlauten aus und ließ sich vorsichtig wieder nieder, als läge er auf Glasscherben. Er atmete flach, als rammte ihm jeder Atemzug ein Messer in den Leib.
»Der Kerl muss mir fünf Rippen gebrochen haben, auf beiden Seiten. Oder das Kreuz.«
»Und du hast keinen Sou bekommen? Haben sie dir auch die Eier abgeschnitten?«
»Konnten sie nicht, denn das hast ja du schon erledigt.«
»Der gottverdammte Scheißkerl hat es getan, um mich zu verhöhnen. Nein, er ist zu blöd, um so weit zu denken.«
»Ich muss pissen. O Gott!«
Joco wimmerte in einem weiteren Krampf.
»Grymonde hat Joco gezwungen, einen toten Hund zu essen«, sagte Estelle.
»Fang bloß nicht damit an, du Rattengesicht. Typhaine, gib mir den Topf.«
»Hol ihn dir selbst.«
»Ich kann nicht mal gerade sitzen. Willst du, dass ich ins Bett pisse? Gib mir den Topf !«
Typhaine schüttete Wein aus einem Topf in zwei Schalen und setzte das Gefäß auf Jocos Bauch ab. Während er sich stöhnend erleichterte, fuhr sie zu Estelle herum.
»Und wo bist du gewesen? Ich habe mich zu Tode gesorgt.«
Estelle glaubte das keinen Moment lang. Typhaine war schlank, immer noch sehr hübsch; ihr dunkelrotes Haar war üppig und wild. Estelle hatte sie einmal für wunderschön gehalten; sie wusste nicht, was sich verändert hatte. Typhaine hatte ihr oft gesagt, dass sie von irischen Königen abstammte, und Estelle glaubte es. Einmal, beschwipst und kichernd, hatte sie erzählt, Estelle hätte auch königliches französisches Blut; aber das hatte sie nie wieder gesagt, und Estelle bezweifelte es.
»Wieso läufst du halbnackt rum? Herrgott, zieh dir was an!«
»Ich habe Hunger«, sagte Estelle.
»In der Küche ist Brot und kalte Suppe. Es ist zu heiß für ein Feuer.«
Estelle aß, während Typhaine Joco verspottete. Ihr fielen zwischen den Bissen die Augen zu. Da hämmerte jemand an die Haustür. Das weckte sie auf, und sie aß noch ein bisschen Suppe. Eine dritte Stimme mischte sich in die Streiterei ein, und Estelle wurde übel.
Diese Stimme kannte sie.
Nasal, schrill, nicht wie die der meisten anderen Leute.
Petit Christian.
Sie fürchtete sich. Sie ging zur Tür und lauschte. Christian stellte Fragen zum Überfall auf das Hôtel d’Aubray. Woher wusste er davon? Er war ein schleimiger Kriecher, der vieles über alles Mögliche wusste. Sie war froh, dass er über den Überfall und nicht über sie sprach.
Eines Abends im letzten Winter hatten Typhaine und Joco sie zu Petit Christian mitgenommen und ihr befohlen, mit ihm zu gehen. Er hatte sie in ein großartiges Stadthaus beim Louvre mitgenommen, weit größer und prächtiger als das, das sie am Morgen überfallenhatten. Christian und eine Frau hatten sie gebadet und ihr das Haar mit Duftwasser gewaschen und ihr ein wunderbares blaues Kleid angezogen, wie sie es noch nie getragen hatte, mit einem goldenen Stern vorne, dem Stern von Bethlehem, wie sie ihr erklärten. Dann hatten sie ihr noch gesagt, sie würde jetzt ein Spiel mitspielen, in dem sie vorgeben würde, Maria Magdalena zu sein. Estelle kannte den Namen, wusste aber nicht, was er bedeutete, und die beiden erklärten ihr, Maria Magdalena sei eine besonders gute Freundin von Jesus gewesen.
Sie führten sie in ein riesiges Schlafzimmer. Dort wartete ein Mann in einem langen weißen Gewand mit einer Dornenkrone auf dem Kopf, die aber nicht aus echten Dornen bestand, damit er sich nicht verletzte. Er sah aus wie Jesus auf manchen Gemälden in den Kirchen. Er stellte seine Füße in eine silberne
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