Die Blutnacht: Roman (German Edition)
nicht fiel.
Die Wärme und Festigkeit seiner Muskeln, seines Halses, seiner Brust füllten sie ganz aus. Der weite Abstand zum Boden erregtesie. Dass sie, Estelle, das größte Lebewesen in Paris war, ließ sie trunken vor Triumph und Stolz werden, denn es kam ihr nie so vor, als ritte sie auf seiner Schulter wie auf einem Pferd. Sie flog auf Grymondes Schultern. Sie raste mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Tiefe. Sie stieg auf. Sie hatte viel über diese Flüge nachgedacht. Kein Vogel, den sie jemals gesehen hatte, hätte sie tragen können, obwohl sie klein war. Eines Abends, als sie am Kamin lag, war ihr klar geworden, dass das nur ein Drache konnte.
Grymonde war ihr Drache.
Als sie ihm das erzählt hatte, hatte er sein donnerndes Lachen erschallen lassen.
»Ich will dein Drache sein, La Rossa, wenn du meine Flügel und mein Feuer sein willst.«
Estelle war entzückt über den Gedanken, seine Flügel zu sein. Aber sie wusste, dass sein Feuer ganz allein seines war.
Diese Überzeugung wurde noch dadurch verstärkt, dass Grymonde, wo er hinkam, den Menschen Furcht und Respekt einflößte. Keine Menschenmenge, die schon stundenlang dicht gedrängt an der Place de Grève auf die Hinrichtungen wartete, war zu missgünstig, um sich nicht wie ein Gerstenfeld zu teilen, wenn Grymonde und Estelle hindurchflogen. Er deutete dann mit dem Kopf auf die Galgen und rief zu ihr hinauf: »Eines Tages wirst du sehen, wie ich auf dieser bleichen Mähre reite. Und dann möchte ich, dass du stolz auf mich bist.«
Sie hatte ihm nie geglaubt.
Die Drachen in den Geschichten wurden getötet, das stimmte, aber sie wurden nie gehängt.
Das erste Mal hatte sie ihn auf dem Fischmarkt in Les Halles mit ihrer Mutter Typhaine gesehen. Die hatte wie immer bei den blassroten Langusten verweilt, wie immer, ohne dort etwas zu kaufen, ehe sie fluchte und zum Stand mit den Aalen weiterging. Da hatte eine riesige Hand drei Langusten auf einmal gepackt, und eine andere hatte dem Fischhändler eine Münze hingeworfen, und dann waren die Langusten in Typhaines Korb gelandet.
Estelle hatte ehrfurchtsvoll zu dem Riesen aufgeblickt, dessen Hände dieses Wunder vollbracht hatten. Sie hatte ihn sofort großartiggefunden. Sie sah sein Gesicht nicht als hässlich, wenn sie auch herausfinden sollte, dass es anderen so ging. Sie sah nur, dass sein Gesicht mehr war. Mehr als jedes andere Gesicht, dass sie je erblickt hatte. Mehr Kiefer, mehr Braue, mehr Wangenknochen, mehr Lippen. Er hatte zu ihr heruntergeschaut und gegrinst. Er hatte große Lücken zwischen den Zähnen, was nicht ungewöhnlich war, außer, dass ihm nur ein einziger Zahn fehlte. Das konnte sie erkennen, denn diese Lücke war viel größer als all die anderen. Seine Nase sah aus wie die der Löwen, die auf den Brunnen gemeißelt waren. Seine Augen waren golden. Er zwinkerte, und sie grinste zurück.
Dann hatte Typhaine den Riesen mit einem Schwall von Flüchen überschüttet, und er war ohne ein Wort zurückgewichen. Als Typhaine Estelle vom Fischmarkt wegzerrte, schaute die sich um, aber der Riese war schon fort. Sie fragte ihre Mutter, wer das war, und die erklärte ihr, er sei ein Monster und sie solle ihn vergessen. Typhaine aß drei Langusten, gab Estelle nur eine.
Typhaine und ihre Brüder Joco und Gobbo, bei denen sie lebten, bildeten Estelle zur Taschendiebin und Einbrecherin aus. Manchmal fragte sie sich, ob die Brüder wollten, dass man sie erwischte und hängte, aber sie verstand sich auf ihr Handwerk. Sie erfand ihre eigenen Tricks.
Eines Morgens in Les Halles, gleich vor dem Käsemarkt, bestahl sie eine Frau, die ein schönes schwarzes Seidenkleid trug und sich einen Weidenkorb mit Deckel an den Arm gehängt hatte. Versteckt in einer geschickt angebrachten Falte im Rock sah Estelle eine fette Börse, die die Frau um die Taille trug. Sie zog das Messer aus dem Futteral, das in ihren Gürtel eingenäht war, und stürzte sich in die Menge, als wollte sie die Frau überholen. Sie packte den Rocksaum der Frau, umrundete sie wie ein Jagdhund und fesselte sie so mit ihrem eigenen Kleid. Sie rammte ihr die Schultern in die Oberschenkel, und als die Frau hintenüber in den Dreck fiel, ließ Estelle ihre linke Hand in die Falte gleiten und schnappte sich die Börse. Sie zückte das Messer, die Frau hob schützend die Hand vors Gesicht, und mit einem Schnitt war die Börse losgeschnitten.
Estelle duckte sich unter dem Griff eines Passanten, der helfen wollte, und schlitzte
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