Die Blutnacht: Roman (German Edition)

getan. Das Gesicht seiner Mutter schwebte ihm vor, ihre Augen, grau wie der Wind, schauten in die seinen. Er sah ihre Liebe. Den Schmerz ihrer grenzenlosen Enttäuschung.
    Grymonde ballte die Fäuste.
    »Wurden auch Leute aus Eurer Bande angeheuert, um mich zu verfolgen?«
    »Nein«, sagte Paul. »Aber das ist unter den gegebenen Umständen nur ein schwacher Trost.«
    Das Châtelet. Die Bruderschaften. Der Louvre noch dazu.
    Er musste Carla aus Paris herausschaffen.
    Er erinnerte sich an ihre Wette.
    Ihm wurde klar, dass sie nicht gehen würde. Nicht ohne Mattias.
    Er stand auf. Od und Maurice zuckten zusammen.
    »Wo ist Tannhäuser?«
    Paul spitzte die Lippen.
    »Wir sind in der Partie weit fortgeschritten«, sagte Grymonde. »Setzt Ihr mich als Turm oder Bauern ein?«
    »Die fünf haben meinen Auftrag.«
    »Nach allem, was ich von diesem Ritter gehört habe, würde ich denen ihr dreckiges Leben retten. Und Euren Ruf gleich dazu. Vielleicht sogar Eure fette Haut.«
    »Der Infant hat Angst vor diesem Mann?«
    »Noch nicht. Aber ich würde mich an Eurer Stelle nicht darauf verlassen, dass die beiden da mein Leben schützen.«
    Paul wedelte mit der Hand. Maurice neigte sich zu ihm, und er flüsterte ihm etwas zu.
    Maurice ging zur Hintertür hinaus. Paul lächelte.
    »Ich wollte immer, dass mein Infant blüht und gedeiht, und das hast du auch gemacht. Ich habe mehr als einmal für dich meinen Einfluss geltend gemacht, ohne dass du es bemerkt hättest. Ich habe sogar vorgeschlagen, dass du vielleicht diesen Auftrag umgehst. Erinnerst du dich?«
    »Ihr habt ihn mir angeboten.«
    »Man hat dich eigens angefordert. Ich weiß nicht, warum. Ich habe nicht nachgefragt. Das mögen Kunden nicht. Aber ich weiß, dass diese Wasser tief sind. Tiefer als alle, durch die der Infant bisher gewatet ist.«
    »Besser in tiefen Wassern ertrinken als in einer Lache aus Pisse.«
    »Es wird gut dafür bezahlt«, sagte Paul, »dass man Carla ausliefert.«
    »Wer? Ich?«
    »Wir beide. Petit Christian würde schmollen, aber er zahlt ja nicht. Diese Leute kaufen einander dauernd frei. Deswegen werden sie in all den Schlachten nicht getötet. Da ist zu viel Geld im Spiel. Es ist kein Verbrechen, aus einer Situation alles rauszumelken. Ich dachte, deswegen hättest du diese Frau mitgenommen – ich dachte mir: ›Mein Infant lernt schnell‹ –, bis du dich nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes erkundigt hast.«
    »Wo ist er?«
    »Lass mich eine seltene Frage stellen: Warum?«
    Grymonde konnte ihm die Wahrheit nicht sagen.
    Er antwortete: »Wo es keine Männer gibt, sei ein Mann.«
    Zum ersten Mal in ihrer langen Bekanntschaft sah Grymonde Schrecken in Pauls Augen. Er hätte dem Mann nicht zugetraut, überrascht zu sein.
    »Diese Perle der Weisheit hast du aber nicht in den Höfen aufgelesen. Sie kommt von ihr, nicht wahr?«
    Grymonde antwortete nicht. Paul lehnte sich erneut vor.
    »Wie du sagst, die Partie ist schon fortgeschritten. Die gedungenen Mörder liegen seit dem frühen Nachmittag in einer Kirche im Hinterhalt. In Sainte-Cécile, auf der Rue du Temple.«
    »Wie können sie sicher sein, dass Tannhäuser kommt?«
    »Der Ritter glaubt, dass er dort seine Frau finden wird. In einem Sarg.«
    Grymonde blinzelte.
    Er erinnerte sich daran, wie grausig er das Hôtel d’Aubray hinterlassen hatte. Instinktiv verstand er. Tannhäuser glaubte, Carla wäre tot. Er hatte genug von dem Gemetzel gesehen, um das anzunehmen, aber nicht gewagt, nach ihrem Leichnam zu suchen. Der Gedanke daran, Carla so entstellt zu sehen, drehte auch Grymonde den Magen um. Kein Ehemann würde einen solchen Anblick wollen.
    Grymonde schickte sich zum Gehen an.
    »Was ist mit meinem mächtigen Infanten passiert?«
    Grymonde ging auf die Tür zu. Pauls Stimme folgte ihm.
    »Hass? Macht? Gier? Warum nicht? Aber Liebe?«
    Grymonde öffnete die Tür mit einem Tritt und ging auf die Straße.
    Es hatte aufgehört zu regnen.
    Im Osten war der Himmel metallisch dunkel.
    Im Westen verging ein Tag der Verdammnis mit Höllenfeuern am Horizont.
    Eine Nacht der Verdammnis würde mit dem Vollmond aufgehen.
    Die Hunde würden nach Carlas Blut lechzen.
    Er zögerte.
    Sie lag ihm am Herzen, nicht irgendein verdammter Ritter.
    Cockaigne konnten sie nicht einnehmen. Das hatte niemand je versucht. Der Name allein war ein Bollwerk. Er hatte noch Zeit. Carla hatte die Karten gezogen und ihre Wette abgeschlossen.
    Urteil. Feuer. Tod.
    Grymonde machte sich auf nach Osten zur Kapelle von