Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Sainte-Cécile.
KAPITEL 21
D AS S YMBOL
Tannhäuser fand in der Nähe von Irènes Gasthof einen Stall. Dort brachte er den Karren und das Geschirr unter und ließ Clementine tränken und füttern. Er war völlig erschöpft. Er hatte Schmerzen. Er hätte eine fürstliche Summe für eine Stunde auf einem der Heuhaufen gegeben. Er dachte an Grégoire.
Er stieg wieder auf und nahm die Partisane zur Hand.
Er ritt an den geplünderten Läden und stinkenden Leichenbergen auf dem Pont Notre-Dame vorüber. Er überquerte die Place de Grève, wo der Wein in Strömen floss und ein Gaukler Räder schlug. Wo immer Schatten zu finden war, flegelten sich Milizmänner, trunken von der Hitze und vom Alkohol, neben ihren Waffen auf dem Boden. Tannhäuser sah nur wenige Anzeichen, dass sie sich aktiv an den Morden beteiligt hatten.
Als wollten sie beweisen, dass sie doch ihr Bestes getan hatten, polterte gerade ein mit neuen Opfern bis oben beladener Karren auf die Seine zu. Blut triefte zwischen den Brettern der Ladefläche heraus. Man hatte die Leichen mit großer Sorgfalt gestapelt, die oberen Lagen bestanden zumeist aus Säuglingen und Kindern.
Tannhäuser ritt rasch weiter.
Auf der Rue du Temple war Hervé, der Gipser, nicht mehr zu sehen und auch kein Ersatz. Die Kette hing aufgerollt an ihrem eisernen Haken. Auch hier waren die Häuser inzwischen geplündert worden, und auf den Straßen lagen die Leichen in blutigen Haufen und warteten auf die Totenkarren. Vielleicht hatte La Fosseeine neue Liste aufgestellt. Als er sich der Kapelle von Sainte-Cécile näherte, wog die Last seiner nächsten Aufgabe in der drückenden Nachmittagshitze schwer auf ihm. Der Gedanke, dass er zu La Fosse höflich sein musste, entmutigte ihn noch mehr. Er war froh, einen Grund für eine Verzögerung zu haben. Tote waren geduldig. Carlas Leiche konnte warten.
Die Türen der Kapelle standen einladend offen, und als er vorüber ritt, warf er einen kurzen Blick hinein. Vorn brannten Kerzen in zwei Reihen. Dazwischen stand auf zwei mit einem weißen Tuch bedeckten Stützböcken ein offener Sarg. Abgesehen davon war das dämmrige Kirchenschiff leer. Tannhäuser war wie benommen und froh darüber. Er ritt weiter zum Hôtel d’Aubray.
Das Einzige, was sich an der zerstörten Fassade des Hauses verändert hatte, war der Zustand von Symonne d’Aubrays Leiche. Sie hing immer noch am Knöchel von der goldenen Schnur. Aber inzwischen hatte ihr Fleisch die Farbe von Bienenwachs und war blau marmoriert. Ihre Arme und Finger waren schrecklich angeschwollen. Fliegenschwärme schimmerten grünlich auf ihren Wunden. Tannhäuser drängte Clementine näher an die Tür. Er beugte sich vor, um über die Schwelle zu schauen.
Fußspuren führten durch das geronnene Blut, das den ganzen Flur überzog. Man hatte Altan Savas nicht fortgeschafft. Ratten nagten bereits an seinen Gliedmaßen. Tannhäuser sah keine Möglichkeit, ihn rasch zu begraben. Das Soldatengrab musste ihm reichen.
Tannhäuser stieg ab.
Er sprach das Salat al-Janazah.
Als er zu Ende gebetet hatte, war er immer noch allein.
Er rief: »Grégoire!«
Er rief ein zweites Mal. Er bekam keine Antwort. Er ging über die kleine Gasse in den Garten hinter dem Haus. Die Sonne hatte die Blutflecke auf der Hintertür zu einer pechschwarzen Kruste gebacken. Er rief noch einmal, vergeblich.
Mindestens drei Stunden waren vergangen, seit Grégoire sich von Juste getrennt hatte. Tannhäuser glaubte nicht, dass der Junge ihn im Stich gelassen hatte, obwohl das natürlich sein gutes Recht war. Seine Abwesenheit konnte sehr viele Gründe haben,und die meisten waren furchtbar. Tannhäusers Kopf war völlig leer. Er konnte sich nicht vorstellen, warum er sich je wieder vom Fleck bewegen sollte. Das Wehklagen einer Frau ertönte in der stickigen Hitze. Tannhäuser wünschte sich, sie würde damit aufhören, und sofort verstummte das Klagen, als wäre ihre Stimme ihm nur aus einem Traum erschienen. Hatte Carla so geschrien? Natürlich hatte sie das. Er hatte solche Schreie überall auf der Welt gehört; sie würden niemals aufhören. Er war krank vor Trauer. Trauer war schrecklich gewöhnlich und nichts wert, auch seine nicht.
Er war müde.
Er sah Altans Strohlager.
Er ließ Clementine im Kohlbeet fressen und zerrte den Strohsack an die hintere Gartenmauer. Er legte sich in den Schatten, und sein Körper stöhnte dankbar auf. Vielleicht überfiel ihn jemand und schnitt ihm die Kehle durch, aber solange der es
Weitere Kostenlose Bücher