Die Blutnacht: Roman (German Edition)
beide das Schicksal gerufen hatte.
»Grégoire, ich habe noch mehr blutige Arbeit zu tun. Und ich werde sie tun.«
Grégoire nickte.
»Es liegen schreckliche Gefahren vor uns. Wenn du willst, schicke ich dich an einen sicheren Ort. Aber wenn du bei mir bleibst, wäre ich dir für deine Hilfe dankbar. Ohne dich rechne ich mir, ehrlich gesagt, keine große Chance aus.«
»Was soll ich tun?«
»Bring mich zu dem Haus in der Rue de la Truanderie.«
KAPITEL 23
D IE SCHARLACHROTE S CHÜRZE
Carla wachte auf und blickte in Amparos Augen. Ihre Nasen berührten einander beinahe. Carla fragte sich, was das Kind wohl sah. Sie schien im Atemhauch ihrer Mutter zu baden. Carla rührte sich nicht. Sie war bezaubert vom Strahlen ihrer Tochter. Die Welt war eins, und sie war ewig. Amparo gab einen kleinen, piepsenden Schrei von sich; eine Begrüßung, eine Frage, ein Lebenslied. Carla lächelte.
»Sie hat schon wieder Hunger«, sagte Alice.
Carla schaute auf und sah sie im Lampenschein. Die alte Frau saß neben dem Bett, völlig fasziniert von dem Schauspiel, als sähe sie es zum ersten Mal.
Amparo rief noch einmal, und Carla setzte sich auf und legte sie an die Brust. Die Vorhänge waren aufgezogen und ließen Luft herein. Der Himmel war malvenfarbig und mit roten Streifen durchsetzt. Unten auf dem Hof prasselten die Feuer, und Funken stoben in die Dämmerung hinauf. Stimmen und Gelächter. Der Duft von gebratenem Schweinefleisch. Grymondes Festmahl. Carla hatte Hunger. Alice hatte einen eisernen Dreifuß zum Wärmen über eine Kerze gehängt. Sobald Amparo gestillt war, brachte Alice eine Schüssel mit Suppe und stellte sie neben das Bett.
Carla wickelte Amparo in ein Tuch und hielt sie Alice hin. Es überraschte sie, wie sehr es an ihrem Herzen zerrte, sie aus der Hand zu geben, sogar in Alices Arme. Aber die Freude in Alices Gesicht verscheuchte dieses Gefühl sofort. Carla schwang die Beine überdie Bettkante und setzte sich auf. Sie musste den Nachttopf benutzen. Sie bat Alice, sie zu entschuldigen, und die ging zum Fenster und murmelte dem Säugling etwas ins Ohr. Carla stand auf und war verwundert darüber, wie leicht sich ihr Körper fühlte. Sie war ein wenig unsicher auf den Beinen, fühlte sich aber kräftig genug. Ihr Bauch krampfte sich in einer Nachwehe noch einmal zusammen. Es war ein bisschen Blut im Nachttopf, aber nicht genug, um Anlass zur Sorge zu geben. Alice kehrte zurück und setzte sich auf ihren Stuhl. Carla saß auf dem Bett und aß. Die Suppe war köstlich.
»Sollten wir sie fester wickeln?«, fragte Carla.
»Das ist dir überlassen. Die meisten machen es. Diese Frau glaubt nicht daran. Welches kleine Lebewesen möchte die Arme und Beine fest an den Körper gebunden bekommen? Es ergibt keinen Sinn. Später wird das Leben sie noch oft genug einengen. Ein ordentlich gewickeltes Tuch reicht, und so viel Kontakt zu deiner Haut wie möglich.«
»Zeig mir, wie du es machen würdest.«
Alice holte ein weißes Leinentuch und zeigte ihr, wie sie es dem Kind mit Knoten und Falten um die Taille wickeln konnte, ohne dass es scheuerte. Sie ließ Carla üben. Was für eine Wonne! Sie wickelten Amparo noch in ein Tuch aus Carlas Koffer. Von unten hörte man Geräusche: Die Haustür ging auf, und ein Schwall festlichen Lärms drang herein, der wieder leiser wurde, als die Tür geschlossen wurde.
Carla fragte: »Grymonde?«
Alice schüttelte den Kopf. »Das Haus hat nicht gebebt.« Sie schlurfte zur Tür. »Wer ist da? Sprich, oder wir machen Hackfleisch aus dir.«
»Ich suche Grymonde«, sagte eine leise, tapfere Stimme.
»Er ist nicht hier.«
»Wo ist er?«
»Ich glaube, es ist Estelle«, sagte Carla. »Ruf sie rauf.«
»Komm hoch.« Alice schaute Carla an. »Estelle?«
»Eine aus Grymondes Bande, glaube ich.«
Alice runzelte ungläubig die Stirn.
Estelle erschien in der Tür und blieb stehen. Sie war noch schmutziger als am Morgen. Sie war von Kopf bis Fuß mit feuchtemRuß beschmiert. Ihr Haar war mit dem Zeug verfilzt. Ihre Arme und Beine waren voller Kratzer und Schrammen. Ihre Augen leuchteten so wild wie immer aus der schwarzen Maske. Sie kam nicht ins Zimmer.
»Hölle und Teufel.«
»Estelle«, sagte Carla. »Bist du wieder durch den Kamin heruntergeklettert?«
»Nein, ich bin in einem hochgeklettert. Wo ist Grymonde?«
»Er ist nicht zu Hause«, antwortete Alice. »Und wenn du hier hereinkommst, dann wirst du gewaschen, da gibt’s kein Entkommen.«
Estelle ließ sich gefallen, dass
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