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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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schämte sich, etwas mit ihm zu tun zu haben. Vielleicht war es für ihn auch einfacher, ihr zu glauben. Aber eines weiß diese Frau, er hat das Mädchen vom Augenblick seiner Geburt an geliebt.«
    »Er liebt es immer noch«, sagte Carla. »Möchtest du, dass ich es ihr sage?«
    »Diese Frau hat an jenem Tag eine Karte für das Kind gezogen. Die Morgendämmerung. Der Kreis und das Quadrat, Rot und Weiß, die Vergangenheit und die Zukunft, Hoffnung und Glaube. Die Ruhe nach dem Sturm.«
    »Der Stern«, sagte Carla.
    Estelle hatte jedes Wort mit angehört. Wenn sie auch nicht verstand, was gesagt wurde, so wusste sie doch, dass es um sie ging. Sie starrte Carla an.
    »Du hast die Karten heute Morgen gesehen«, sagte Alice. »Sie hat ihn vielleicht nicht mehr lange.«
    »Vielleicht ein Grund, die Wahrheit zu sagen.«
    »Vielleicht ist er weiser als wir. Eltern sind Eltern. Aber ein Drache?«
    Carla erinnerte sich an etwas, das Mattias ihr über Orlandu erzählt hatte. Damals, als er dem Jungen im Inferno von Saint Elmo gesagt hatte, er sei gekommen, um ihn zu seiner Mutter zu bringen, war Orlandu so verletzt, so zornig gewesen, dass er eine Weile Mattias’ Freundschaft verschmäht hatte. Orlandu hatte geglaubt, der mächtige Tannhäuser hätte ihn um seiner selbst willen als Freund ausgewählt, nicht weil er jemandes Sohn war. Dass es noch einen anderen Grund gegeben hatte, einen langweiligen, praktischen Grund, das hatte seinen Stolz verletzt.
    »Die eine hat sie verlassen«, sagte Carla. »Der andere hat sie ausgewählt.«
    »Worüber redet ihr?«, fragte Estelle.
    »Wir reden über dich, Estelle«, antwortete Alice. »Du bist der Morgenstern, der hellste Stern am Himmel. Deswegen hat Grymonde dich gewählt.«
    Estelle schaute Alice lange ins Gesicht.
    »Grymonde nennt mich La Rossa. Können wir mein Haar für ihn waschen?«
    Estelle das Haar zu waschen hatte Alice mehr angestrengt als Carlas Entbindung, aber jeder Augenblick war für beide eine Wonne. Carla beschränkte ihren Beitrag darauf, die Wassereimer zu holen, die der stille Hugon zur Tür brachte, während Amparo auf dem Rücken auf dem Bett lag. Schließlich war Carla triefnass.
    Sie stillte Amparo noch einmal und zog sich um, kleidete sich wieder in ihr hellgoldenes Kleid. Jetzt hing es ihr in losen Falten um die Hüften. Sie legte die Hände auf den Bauch. Sie hatte noch Schmerzen im Unterleib, und ab und zu kamen noch kurze Krämpfe. Sie war sehr müde. Im einen Augenblick war sie der Ekstase nahe, im nächsten abgrundtief traurig.
    Sie begann sich wegen Petit Christian Sorgen zu machen.
    Sie ging mit Amparo in den Armen auf und ab.
    Auf der Suche nach ihr hatte Mattias bestimmt bei Petit Christian angefangen. Es würde zwar gegen seine Prinzipien verstoßen, ihren Entführern ein Lösegeld zu geben, aber er würde trotzdem jeden Preis zahlen, um sie zurückzubekommen. Er würde jedoch darauf bestehen, die Verhandlungen selbst zu führen. Warum sprach aber Christian mit Leuten wie Joco über das Lösegeld? Misstraue dem Louvre, hatte Grymonde gesagt. Er wusste nicht, wer ihn angeheuert hatte, sie zu ermorden.
    Sie begriff, dass Petit Christian ihn beauftragt hatte. Nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Namen eines anderen, eines Mächtigeren. Übelkeit überkam sie. Die Einladung zur Hochzeit. Die lange Reise nach Paris. Die Musik. Alles war Täuschung gewesen. Sie hatten sie den weiten Weg hierher gebracht, um sie umzubringen. Und dann hatten sie beinahe zwei Wochen damit gewartet und eine ganze Familie niedergemetzelt.
    Warum?
    Sie merkte, dass ihre Beine zitterten. Sie blieb beim Fenster stehen und lehnte sich auf das Fensterbrett. Sie betrachtete das fröhliche Treiben rings um die Kochstellen unten im Hof. Hatten Christians Herren die Macht, auch hier einzudringen, hier in den Höfen? Sie redeten mit Joco. Über Geld. Grymonde würde sie nicht verraten. Aber jeden anderen im Hof konnte man für ein sauberes Hemd kaufen.
    Sie durfte auf keinen Fall auf die Straßen hinausgehen. Grymonde könnte jeden Augenblick zurückkommen. Vielleicht brachte er sogar Mattias mit. Als sich die seltsame Verträumtheit der Niederkunft verflüchtigte, sehnte sie sich mehr und mehr nach ihm. Sie hatte heute Morgen recht gehabt, er war wirklich nah.
    Er war nah.
    Er kam.
    Sie sah sein Gesicht vor sich. Das Gesicht eines Mattias’, der wusste, dass sie in Gefahr war. Seine blauen Augen. Diese Augen jagten ihr mehr Furcht ein, als sie ihr Trost spendeten. Sie hatte

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