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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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gebracht, ihm wehzutun, ohne dass Ihr ein Wort sagen musstet.«
    »Arbeitet Petit Christian im Louvre für die Königin?«
    »Ich weiß es nicht. Die Leute, für die er arbeitet, sind böse. Er ist eine giftige Kröte.«
    Carla fand das Tuch und verdrehte es in den Händen. Sie war hier nicht mehr sicher, aber das Gefühl war weit weg von ihr, weil so viel anderes ihr nahe war. Ihr Körper. Ihre Müdigkeit. Ihre Freude. Ihr Kind. Alice.
    »Carla? Lass die alte Frau Estelles Gesicht waschen, bitte.«
    Alice reichte ihr Amparo. Carla nahm das Kind und drückte es an sich. Amparo schlief. Carlas Brüste schmerzten. Sie sah, wie AliceEstelle musterte, mit ihrem Wesen so sehr wie mit den Augen. Estelle schrak zurück. Alice setzte sich aufs Bett und winkte sie zu sich.
    »Hab keine Angst vor dieser alten Frau, Estelle. Du willst doch, dass dein schönes Gesicht sauber ist, wenn Grymonde nach Hause kommt, nicht?«
    »Kommt er nach Hause?«
    »Grymonde kommt immer nach Hause. Er ist mein Sohn.«
    »Er ist mein Drache.«
    Estelle lächelte. Carla konnte sich nicht erinnern, sie je lächeln gesehen zu haben. Es war Grymondes Lächeln, ein wenig verrückt und so groß wie ihr Herz. Alice seufzte, und all ihr Schmerz und ihre verlorene Freude lagen in diesem Seufzer. Sie tätschelte ihren Schoß und forderte Estelle auf, sich darauf zu setzen. Estelle tat das, das schwarze Gesicht quicklebendig unter dem schmutzigen weißen Turban.
    »Ich wusste nicht, dass Grymonde eine Mutter hat«, sagte sie.
    »Jeder hat eine Mutter, Liebchen. Sogar ein Drache.«
    Alice seifte das Tuch ein und tauchte es ins Wasser. Sie zögerte. Sie war eine Frau, der das Fleisch seine tiefsten Geheimnisse enthüllte, aber nun schien sie beinahe Furcht zu verspüren, als könnte Estelle verschwinden, sobald sie sie berührte. Carla verstand sie. Sie hielt Amparo an ihre Wange geschmiegt und schaute zu, wie ein weiterer ewiger Augenblick vor ihr entstand. Alice begann den Ruß aus Estelles Gesicht zu wischen. Sie berührte die Haut mit Zärtlichkeit, spülte das Tuch nach jeder Bewegung aus, als sei jede Bewegung ein Schatz, der ein Leben voller Angst wert war, als wischte sie mit jeder Bewegung nicht nur den Ruß, sondern auch die Ängste fort.
    Carlas Ängste wurden von etwas Mächtigerem, Dauerhafterem verdrängt als von irdischen Sorgen. Von etwas Mystischem. Amparo öffnete die Augen und gurrte, und Carla drehte sie herum, damit sie auch zusehen konnte.
    »Grymonde hebt mich auf seine Schultern«, erklärte Estelle zwischen Wischern. »Seine Schultern sind der höchste Platz in ganz Paris, höher als alle anderen, und er nimmt mich überall hin mit, wohin ich will. Ich ziehe an seinen Ohren, um ihm zu sagen, wo er hingehen soll, und er brüllt, und Feuer schießt ihm aus demMund. Und alle gehen uns aus dem Weg, und sie wünschen sich alle, sie wären an meiner Stelle, denn ich bin das einzige Mädchen auf der Welt, das mit dem Drachen fliegen kann. Ist mein Gesicht jetzt sauber?«
    »Noch nicht, Liebchen.«
    »Warum weinst du?«
    »Weil ich glücklich bin.«
    Estelle schaute zu Carla. »Seid Ihr auch glücklich?«
    Carla bemerkte, dass auch ihr die Tränen über die Wangen rollten. Sie nickte.
    »Ich weine nur, wenn ich traurig bin«, sagte Estelle.
    »Traurige Tränen sind gut. Glückliche Tränen sind besser«, meinte Alice.
    Alice wischte den Ruß von Estelles Lippen, aus ihren Nasenlöchern und Ohren. Sie sagte ihr, sie solle die Augen schließen, und wischte ihr die Lider und Wimpern. Sie schaute das Mädchen an.
    »Du bist sie. Du bist du. Darf ich dich in die Arme nehmen?«
    Estelle schaute unsicher zu Carla. Die nickte.
    »Wenn du magst«, antwortete Estelle.
    Alice umarmte sie. Carla sah, wie sie in dem großen Reich ihres Wissens suchte, sich selbst Fragen stellte, nach der Wahrheit, nach dem Richtigen forschte. Sie war bereit, sich ihren gerechten Anspruch auf das Kind zu versagen, obwohl dieser Anspruch – dieses Erkennen – alle ihre Wunden geheilt hätte. Sie kämpfte mit der Weisheit dieses Verzichts. Sie versuchte, über ihr eigenes Verlangen hinwegzusehen und das zu finden, was Estelle am meisten brauchte. Sie schaute zu Carla.
    »Die andere, weißt du, die Dame hat ihm gesagt, das Kind wäre nicht von ihm. Sondern von einem feinen Herrn, der ihr Geld geben würde, aber wenn er das wirklich getan hat, hat es nie jemand zu sehen bekommen. Doch dann begann er bereits, sich zu verändern – seine Zähne, seine Stirn –, und sie

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