Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Alice ihr den Gürtel abnahm, ihr das Kleid über den Kopf zog und damit den schlimmsten losen Ruß aus den langen Locken wischte. Alice knüllte das Kleid zusammen und warf es aus dem Fenster, ungeachtet des Protestgeschreis von unten. Sie nahm ein Leinentuch, das sie vorhin benutzt hatte, und schlang es wie einen Turban um das Haar des Mädchens.
»Du bist an einem besonderen Ort, benimm dich also«, sagte Alice. »Und jetzt hilf der alten Frau mit dem bösen Rücken und setze dieses Wasserbecken auf den Boden, los. Nichts verschütten.«
Estelle kam auf Zehenspitzen ins Zimmer. Sie sah Amparo in Carlas Armen und blieb stehen.
»Ist das Euer neues Kind?«
»Ja, es ist ein kleines Mädchen.«
»Wie heißt sie?«
»Amparo.«
»Den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Wenn du sauber bist, kannst du sie begrüßen. Du bist ihre erste Freundin.«
»Ihre allererste Freundin?«
»Ihre allererste Freundin auf der Welt.«
Estelle hob den Zinnbottich vom Tisch und setzte ihn auf den Boden. Das Wasser war nicht frisch, aber das machte wohl kaum etwas aus. Estelle stieg feierlich hinein. Als Alice sich daran machte, mühsam in die Knie zu gehen, stand Carla auf und reichte ihr Amparo.
»Bitte lass es mich machen. Es geht mir gut.«
Alice wehrte sich nicht. Sie nahm das Kind, und Carla kniete sich neben Estelle und wusch sie vom Hals abwärts mit einem eingeseiften Lappen. Es war das erste Bad seit langer Zeit für das Mädchen. Sie hatte außer den Kratzern auch noch andere Wunden auf der Haut. Als ihre Hände sauber waren, lehnte sich Estelle auf Carlas Schulter, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Die Hände fühlten sich für Carla gut an.
»Du musst eine bessere Methode finden, als immer durch den Kamin zu kommen und zu gehen.«
»Ich hasse Kamine, aber der Sergent saß neben der Haustür, und das Fenster war zu weit oben. Er hat all unsere Suppe aufgegessen und ist dann eingeschlafen. Ich hasse ihn auch. Ich hasse sie alle.«
»Nun, hier ist niemand, den du hassen musst. Wir sind alle gute Freunde.«
»Ist Grymonde Euer Freund?«
»Ja, Grymonde ist mein Freund geworden. Er ist ein guter Freund.«
»Er fliegt mit mir.«
»Das muss wunderbar sein«, sagte Carla.
»Das ist es. Aber du magst den Ritter lieber als Grymonde, nicht?«
Carla hielt inne und schaute sie an. Sie erinnerte sich an die Eifersucht in Estelles Augen, den Schmerz, als sie vom Hof verjagt worden war. Die Eifersucht war fort; an ihre Stelle war eine schreckliche Sehnsucht getreten. Carlas Herz zog sich zusammen. Es gab keinen Zweifel mehr. Estelle war Grymondes Tochter.
Das wusste sie nicht, weil sie Grymonde in Estelles Gesicht erkannte, sondern weil sie Alice in Estelles Augen sah. Wild und grau wie das Meer und genauso tief verletzt. Tränen stiegen Carla in die Augen. Sie schluckte. Sie wollte Alice anschauen, machte es aber nicht. Der Ritter? Sie wrang das Tuch aus. Sie wollte sich die Stirn wischen, aber das Tuch und das Wasser waren inzwischen so schmutzig, dass sie sich stattdessen mit dem Arm darüber fuhr. Gefühle ließen ihre Gedanken verschwimmen. Sie nahm Zuflucht zu praktischen Dingen.
»Komm heraus, Estelle. Für dein Gesicht nehmen wir frisches Wasser.«
Estelle kam hervor, und Carla zog sich am Bett auf die Beine. Sie beugte sich hinunter, um den Bottich aufzuheben, aber Estelle kam ihr zuvor.
»Ich mach das.« Sie trug den Bottich zum Fenster. »Achtung!«
Estelle kippte das Wasser heraus und erntete ein paar Flüche. Sie trug den Bottich zurück, und Carla stellte ihn auf den Tisch und goss aus einem Krug frisches Wasser hinein. Sie hielt Ausschau nach einem sauberen Tuch.
»Du hast von einem Ritter gesprochen. Meinst du meinen Mann Mattias?«
»Den mögt Ihr doch am liebsten, nicht?«, fragte Estelle und fürchtete sich vor der Antwort.
»Ja, natürlich mag ich Mattias am liebsten. Ich liebe ihn. Woher weißt du von ihm?«
»Petit Christian hat gesagt, der Ritter würde Grymonde einen Haufen Gold geben, wenn er Euch nach Hause gehen ließe. Also habe ich ihm gesagt, dass Ihr hier seid. Aber er ist ein Lügner. Die sind alle Lügner. Er hat mich einen Judas genannt, und ich bin kein Judas. Also bin ich weggelaufen, um es Grymonde zu sagen. Und Euch.«
»Du hast also den Ritter Mattias nicht gesehen?«
»Nein«, sagte Estelle, »sie haben nur über ihn geredet.«
»Sie? Wer war sonst noch da?«
»Meine Mutter und Joco.«
»Joco von heute Morgen?«
Estelle nickte. »Ihr habt Grymonde dazu
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