Die Blutnacht: Roman (German Edition)
geglaubt, zu wissen, wozu er fähig war. Sie hatte sich in ihn verliebt, während sie zusah, wie er einen hilflosen Priester folterte und tötete. Das Bild vor ihrem geistigen Auge zeigte einen Mann, der zu Taten fähig war, die sie sich nicht einmal vorstellen konnte; der jede Grenze der Moral und Ehre überschreiten würde; der seine Seele bis in ihre tiefsten Tiefen verletzen würde; für sie. Sie liebte ihn. Sie wollte ihn. Er machte ihr Angst. Sie wandte sich verwirrt vom Fenster ab.
Sie schaute auf Amparo. Auf die Vollkommenheit ihrer absoluten Unschuld. Wie konnte der Mann vor ihrem inneren Auge dazu beigetragen haben, sie zu schaffen? Sie wandte sich an Alice. Sie brauchte ihren Rat. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, Alice die Freude zu verderben. Und weil in gewisser Weise Alice in Carlas Wesen eingedrungen war und in ihr Dinge geweckt hatte, die sie immer geahnt, aber nicht zu wissen gewagt hatte, kannte sie Alices Rat ohnehin schon.
Das Zimmer ist voller Liebe.
Hier und jetzt ist die Liebe da.
Du hast die Wahl zwischen Liebe und Furcht.
Alice schaute sie an, und Carla lächelte.
Aus einem blauen Seidenhemd, das Alice zwanzig Jahre nicht mehr getragen hatte, wurde eine Art Kleid für Estelle gemacht. Carla hatte in ihrem Koffer zwei Kämme gefunden. Estelle sonnte sich in der Bewunderung, mit der sie überhäuft wurde und die, das spürte Carla, für sie etwas Neues war. Carla nahm Amparo auf. Sie fühlte sich schwach und trat wieder zur Fensterbank, um sich abzustützen. Sie spürte Alice hinter sich, die Hände um ihre Taille gelegt.
»Wir haben dir zu viel zugemutet, Liebes. Komm und lege dich hin.«
»Ein kleiner Schwindel. Lass mich warten, bis er vorüber ist.«
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Ihre Kraft kehrte zurück. Sie schaute auf den Hof hinunter und erhaschte einen Blick auf Antoinette. Man hatte dem Mädchen die Augen verbunden,und es jagte hinter einer Bande von Kindern her, versuchte, eines von ihnen einzufangen. Antoinette lachte. Sie schien sich völlig umgezogen zu haben, nur die Mütze mit dem weißen Kreuz hatte sie noch auf dem Kopf behalten. Carla hatte kein schlechtes Gewissen mehr, weil sie sich den ganzen Tag nicht um das Kind gekümmert hatte.
Das Fest war in vollem Gang. Es mussten über fünfzig Leute auf dem Hof sein, die sich um die Überreste des Schweins tummelten, das sich noch über einem Bett glühender Kohlen am Spieß drehte. Andere Feuer loderten. Die von Lampen erhellten Tische waren mit Brot, Schüsseln voller Bohnen, Reis und Kutteln beladen. Man hatte ein Fass Wein aus dem Hôtel d’Aubray angezapft. Wasserlachen schimmerten auf dem Boden.
»Es hat geregnet.«
»Was ängstigt dich, Liebes?«
»Wir sind hier nicht mehr sicher.«
»Ich weiß.«
Eine gedrungene Gestalt bahnte sich einen Weg durch die Menge zum Haus. Der Mann schaute hoch und blieb unter dem Fenster stehen. Es war Papin. Er schwitzte und war völlig außer Atem. Er hatte Angst. Er rief hinauf.
»Ist Grymonde da drin?«
Carla trat einen Schritt zurück. Sie wollte nicht, dass er Amparo sah. Wieder wurden ihre Beine schwach, aber nicht vor Schwindel. Sie wollte Mattias. Sie wollte Grymonde. Alice lehnte sich aus dem Fenster.
»Was willst du?«
»Wo ist Grymonde?«
»Er hat zu tun. Iss was.«
»Kann ich hereinkommen, Mam?«
»Wage es bloß nicht. Du kennst die Regeln.«
»Es gibt Schwierigkeiten, Mam.«
»Nimm sie woanders hin mit.«
»Kann ich nicht. Sie kommen her.«
»Warte unten.«
Alice trat vom Fenster zurück. Ihr Gesicht war aschfahl.
»Die bösen Männer kommen«, sagte Estelle.
Diesen Satz hatte auch Altan Savas gesprochen.
Carla und Alice wandten sich zu ihr um.
Estelle war so wild wie vorhin am Morgen in Carlas Schlafzimmer.
»Christian hat von den Garden und den Soldaten Christi gesprochen. Sie wollen Grymonde. Sie wollen dich, Carla. Sie wollen dich noch immer.«
»Estelle«, sagte Alice, »geh nach unten und verriegele die Haustür. Ein Riegel ist zu weit oben, aber weiter unten ist auch einer – der untere reicht. Und ein Balken, der quer über die Mitte gelegt wird.«
Estelle rannte aus dem Zimmer und warf ihr feuchtes rotes Haar hinter sich.
»Und mach die Fenster und die Klappläden zu!«
Alice lehnte sich aufs Bett, beugte sich herunter und hob den Nachttopf auf. Sie ging zum Fenster, leerte den Topf aus und schlug ihn dann wie einen Gong auf das Fensterbrett.
»Cockaigne! Cockaigne! Hört eure Mutter!«
Die Jahre und
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