Die Blutnacht: Roman (German Edition)
ignorierte den Schmerz. Im Treppenhaus war es dunkel, von unten kam ein gelber Schein. Ihre Hüften schmerzten, und sie musste sich an die Wand lehnen. Weiter unten verlor sie den Halt und rutschte die letzten Stufen auf dem Hinterteil hinunter. Sie zog sich auf die Füße und taumelte durch die Küche.
Sie sah, wie Estelle auf die Karten schaute, die noch auf dem Tisch ausgebreitet lagen.
»Grymonde ist hier. Hilf mir, die Tür aufzumachen.«
Draußen dröhnten einzelne Schüsse. Estelle rannte vor ihr her und zog den unteren Riegel zurück. Zusammen hoben sie den schweren Balken hoch. Carla fragte sich, wie das Mädchen ihn allein hatte vorlegen können. Sie zog die Tür auf, und Grymonde stürzte herein, als eine Musketenkugel ins Holz einschlug und ihm Splitter um die Ohren schleuderte. Als er die Tür wieder schloss,warf sich noch Papin mit der Schulter dagegen und taumelte ins Haus. Grymonde legte den Balken wieder in die Halterung und schob die Riegel zu.
»Ich habe Mattias nicht gefunden«, sagte Grymonde. »Nur die Leichen, die er hinterlassen hat. Dann habe ich von dem hier Wind bekommen.« Er wandte sich um und sah Estelle. »La Rossa? Meine Güte, was für eine Schönheit du geworden bist!«
»Ich bin kein Judas«, sagte Estelle.
»Wie könntest du ein Judas sein? Du bist der Flügel des Drachen.«
Er grinste und strich ihr übers Haar.
»Kann ich dann mein Messer wiederhaben?«
Grymonde gab ihr das kleine Messer zurück, und sie steckte es sich in den Gürtel.
»Jetzt aufs Dach mit euch allen. Papin, den Vorschlaghammer da, bring ihn mir.«
Grymonde nahm eine Ledertasche von einem Haken, zog eine Börse heraus und schüttelte sie, so dass sie sie klirren hörten. Dann stopfte er sie wieder hinein.
»Papin, hör auf zu zittern. Da sind ja diese Mädchen tapferer. Nimm den Vorschlaghammer mit aufs Dach.«
»Wie bist du entkommen, Papin?« Estelle starrte ihn an.
»Einem einzigen Sergent ? Kinderleicht. Und du?«
»Schluss mit dem Reden«, sagte Grymonde. »Tut was! Tut was!«
Papin trottete mit dem Vorschlaghammer zur Treppe.
»Estelle«, sagte Carla, »gehst du zu Alice und sagst ihr, dass sie Amparo warm einpacken soll?«
Estelle rannte hinter Papin her. Grymonde steckte ein Pulverhorn und einen Beutel mit Musketenkugeln in die Tasche. Er nahm Carla beim Arm und führte sie zur Treppe. Er blieb beim Tisch stehen und schaute auf die Karten.
»Die Pilger von Saint-Jacques sind hier, um Euch zu retten. Es gibt keinen anderen Grund, warum diese Fanatiker herkommen würden. Wenn es nur sie wären, dann würde ich Euch vielleicht gehen lassen, aber Petit Christian ist auch da draußen.«
»Er hat Euch beauftragt.«
»Ja, aber ich weiß immer noch nicht, warum. Er hat auch fünf Banditen angeheuert, um Mattias zu fangen oder zu töten. Wenn sein Herr heute Morgen wollte, dass man Euch ermordet, dann ist er jetzt wahrscheinlich noch mehr darauf aus. Aber ich glaube, dass die Pilger keine Ahnung von dieser Sache haben. Also bitte, aufs Dach.«
Grymonde raffte die ausgelegten Karten und den Rest des Spiels auf.
»Ich glaube nicht, dass Alice es aufs Dach schafft«, sagte Carla. »Ich glaube nicht, dass sie es versuchen wird.«
»Sagt mir, was die erste Karte beim Kartenlegen davor war.«
»Der Gehängte, auf dem Kopf. Alice nannte ihn den Verräter.«
»Der Drache beißt sich in den Schwanz.« Er nickte. »Ich habe Cockaigne zerstört. Und der Fragende?«
»Der Tod.«
»Ihr habt recht. Mam wird es nicht versuchen, also lasst sie.«
Die Fensterscheiben hinter den Klappläden gingen klirrend zu Bruch. Fäuste hämmerten an die Tür, und Stimmen verlangten im Namen des Königs, dass sofort aufgemacht würde.
Carla stieg die Treppe hinauf. Sie merkte, wie sich etwas in ihr verschob. Sie stemmte sich gegen beide Wände, während sie hinaufging. Sie erreichte die oberste Stufe und bemerkte, dass etwas an ihrem Bein herunterglitt. Sie achtete nicht darauf. Sie versuchte die Schwäche abzuschütteln. Es ging um ihr Kind.
Im Geburtszimmer saß Alice auf dem Bett und hielt Amparo auf dem Schoß. Estelle hockte neben ihr und sah zu, wie man das Kind in ein Tuch wickelte. Carla ging zu ihnen, und Alice hielt ihr Amparo hin. Carla nahm sie.
»Darf ich sie halten?«, fragte Estelle. »Ich bin jetzt sauber.«
Carla überwand ihr Zögern und legte Amparo in Estelles Arme. Alice schnalzte dankbar mit der Zunge. Estelle holte tief Luft, und ein großes Staunen trat in ihre wilden grauen Augen.
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