Die Blutnacht: Roman (German Edition)
gewohnt.
»Dann kommst du wieder her und passt sehr gut auf, wegen der Soldaten.«
»Die werden mich nicht sehen. Und wenn, dann fangen sie mich niemals.«
»Warte auf einen großen Mann, der Mattias Tannhäuser heißt. Kannst du den Namen sagen?«
»Mattias Tannser. Ist er der Ritter?«
»Ja. Er ist Amparos Vater. Er wird kommen. Sein Haar ist beinahe von der gleichen Farbe wie deines, aber nicht so lang. Er ist wild und tapfer wie du, aber hab keine Angst. Sag ihm, was geschehen ist.«
Carla legte Amparo in Estelles Arme. Amparo gurrte unter dem Tuch hervor.
»Ein Engel kommt mit euch. Alice hat ihn gesehen. Er wird euch behüten.«
Estelle nahm all das mit einer Gelassenheit auf, die Carla erstaunte und hoffnungsvoll stimmte.
»Ich bleibe hier bei Alice. Darf ich dich küssen?«
»Du bist meine Schwester.«
Carla küsste sie auf die Wange. Sie küsste Amparo noch einmal.
Das Schlimmste war geschafft.
»Du bist die beste Schwester auf der ganzen Welt«, sagte Carla. »Und nun geh.«
Estelle rannte über das Dach fort, und Carla konnte den Anblick kaum ertragen. Estelle machte kleine, rasche und leichte Schritte, war auf ihren nackten Füßen so sicher wie ein Eichhörnchen. Sie sprang auf den First und lief im gleichen Tempo weiter, Amparo auf dem linken Arm, mit der Rechten hielt sie die Tasche auf dem Rücken. Sie lehnte sich in ihre Bewegungen, flog beinahe über den Dunst.
Carla konnte kaum glauben, was sie gerade getan hatte. Beinahe hätte sie Estelle zurückgerufen. Beinahe hätte sie versucht, ihr zu folgen. Aber die Schnelligkeit des Mädchens war der beste Beweis dafür, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Carla wollte gerade dem Schluchzen nachgeben, das in ihr lauerte. Da merkte sie, dass die Nacht ruhig geworden war. Ab und zu der Ruf eines Soldaten, aber kein Gewehrfeuer, kein Geschrei. Sie schaute auf den Hof. Die anderen Dächer waren leer. Mit Grymondes Tod war auch das Königreich Cockaigne gestorben, und seine Untertanen verschwanden in den Höfen.
Sie drehte sich noch einmal um und schaute Estelle nach. Das Mädchen rannte immer noch, und ihr wildes Haar flog über derWüste aus Ziegeln. Dann, als wären sie durch ein Tor in der Nacht verschwunden, waren Estelle und Amparo fort.
Carla hörte Schritte auf der Treppe.
Carla holte tief Luft und hielt sie an. Sie atmete aus. Und hatte ihren Mut zurückgewonnen. Sie dachte an Mattias. Der bleiche Reiter würde kommen. Genau wie sie sprengte er aufs Feuer zu.
Hinter ihr ging krachend die Tür auf, als hätte jemand dagegen getreten. Sie drehte sich um.
Dominic Le Tellier blieb stehen und schaute sie an. Er hielt ein blutiges Schwert in der Hand. Er schaute zur Dachkante, und sie wusste instinktiv, dass er darüber nachdachte, sie herunterzustürzen. Sie hörte andere, schwerere Schritte, das Klirren einer Rüstung. Es fiel ihr nicht schwer, verächtlich zu schauen.
»Hauptmann Le Tellier.«
Dominic trat von einem Bein aufs andere, als hätte ihn bereits der Klang seines Namens verurteilt.
»Ihr benutzt besser Euer Schwert, sonst verspreche ich Euch, dass ich Euch mit in den Abgrund nehme.«
Dominic schaute wieder zur Dachkante.
»Ich wusste bereits, dass Ihr ein Narr seid. Jetzt sehe ich, dass Ihr auch ein gemeiner Feigling seid.«
Eine große, atemlose Gestalt kämpfte sich durch die Tür und schob Dominic zur Seite. Es war ein Riesenkerl mit breiter Brust, größer als Mattias. Sein Schwert war sauber. In der anderen Hand hielt er eine Lampe. Als er Carla sah, steckte er das Schwert in die Scheide und zog den Helm vom Kopf. Er verneigte sich.
»Lady Carla de La Penautier? Hauptmann Bernard Garnier, zu Diensten.«
Carla knickste, und Garnier zwinkerte vor Freude.
»Hauptmann Garnier, Ihr habt mich vor einem Untier gerettet, das zu widerwärtig ist, um einen Namen zu verdienen.«
Garnier wuchs einen weiteren Zoll vor Stolz.
»Das war doch gar nichts, Mylady. Ihr erweist mir eine unaussprechliche Ehre.«
»Diese Ehre habt Ihr verdient. Ich fühle mich schwach. Würdet Ihr mir helfen?«
Garnier war kein kultivierter Mann, aber er hatte einen raschen, praktischen Verstand.
»Mit Eurer freundlichen Erlaubnis, Mylady, leuchte ich Euch die Treppe hinunter, und obwohl ich dessen keineswegs würdig bin, so bitte ich Euch, solltet Ihr das Bedürfnis verspüren, Euch auf meinen Rücken zu stützen, wenn Ihr es für nötig haltet.«
Carla schwankte vor Erschöpfung. Sie hatte ihn. Nun fesselte sie ihn
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